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Luftverschmutzung

Atemlos durch den Winter

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»Europa muss mit beiden Lungenflügeln atmen, mit dem östlichen und dem westlichen«, sagte Jean-Claude Juncker in seiner Rede zur Lage der Union im September vergangenen Jahres. Doch was tun, wenn der osteuropäische Lungenflügel im Smog erstickt? Wenn selbst aus der achten Etage in der bulgarischen Hauptstadt Sofia der Blick auf das wunderschöne Witoschagebirge durch einen dicken, grauen Schleier versperrt wird?

In Montenegro gibt es einen Witz: Ein Bewohner aus Pljevlja (eine der meistverschmutzten Städte Montenegros) reist in den Nationalpark Lovćen. Als er aus dem Bus steigt, wird ihm schlecht und er fällt in Ohnmacht. Der Busfahrer sagt: »Schnell, legt ihn unter den Auspuff, damit er zu sich kommt!« – Der Witz gilt für alle Länder auf dem Balkan. Man muss nur die Namen der Städte austauschen.

Die Luftverschmutzung ist dort seit Jahren ein großes Problem. Die Messstationen registrieren vor allem in den Wintermonaten Werte, die die EU-Grenzwerte um ein Vielfaches übersteigen. Genau jetzt, im Januar 2018, zeigt die mazedonische App »MojVazduh« für Skopje-Zentrum 97 Mikrogramm Feinstaub je Kubikmeter (PM10) bei einem Tagesgrenzwert von 50 Mikrogramm. Die App sagt außerdem, es ist der sechste Tag in Folge, an dem die Grenzwerte überschritten werden.

Ortswechsel: Sofia. Die Internetseite »airtube.info« zeigt für die bulgarische Hauptstadt 59 Mikrogramm Feinstaub je Kubikmeter (PM10) für heute, den 1. Februar 2018. Es ist ein guter Tag zum Atmen, würde ein Optimist sagen, denn die Werte überschreiten nur leicht die EU-Norm. Eine Woche vorher lagen die Tageswerte bei 238 Mikrogramm. Code: lila. Das aktuelle Ende der Farbskala.

Der traurige Gewinner der am meisten mit Feinstaub belasteten Balkanländer heißt Bosnien und Herzegowina: Laut einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation von 2017 hat das Land die höchsten Durchschnittswerte für Feinstaubbelastung und führt die Statistik für Sterbefälle infolge der Luftverschmutzung an.[1]

450.000 Tote jährlich durch Luftverschmutzung in Europa

Was ist eigentlich Feinstaub und was macht er mit uns? Nichts Gutes – das schon mal vorweg. Es ist eine Mischung aus festen und flüssigen Partikeln und wird abhängig von deren Größe in unterschiedliche Gruppen eingestuft. Es gibt den PM10-Wert[2] mit Partikelgrößen von 10 Mikrometern Durchmesser, PM2,5 und ultrafeine Partikel mit einem Durchmesser von weniger als 0,1 Mikrometern. Die letzten beiden Kategorien sind am gefährlichsten. Denn während Partikel der Stufe PM10 beim Menschen in der Nasenhöhle gefiltert werden können, dringen PM2,5-Partikel bis in die Bronchien und Lungenbläschen vor. Ultrafeine Partikel können in das Lungengewebe und sogar den Blutkreislauf eindringen. Schleimhautreizungen und lokalen Entzündungen in der Luftröhre und den Bronchien sind dann das geringste Übel. Aufgrund der Luftverschmutzung sterben jedes Jahr 450.000 Menschen – allein in Europa. Mehr als zehnmal so viele wie durch Unfälle im Straßenverkehr.

Die Politik ist hilflos

Die Quellen für Feinstaub sind vielfältig: Industrie, Straßenverkehr, Landwirtschaft, Emissionen aus Kraft- und Fernheizwerken, Öfen und Heizungen in Wohnhäusern oder der Metall- und Stahlerzeugung, sowie das Umschlagen von Schüttgut. Und Armut. Die Messstationen in den Armenvierteln von Sofia verzeichnen immer die höchsten Werte. Die Menschen dort verbrennen alles, um die schlecht isolierten Wohnungen zu heizen: Autoreifen, Kabel, Plastik und Klamotten. Gift für die Luft – und für die Menschen.

Die Politik in Südosteuropa – namentlich Kosovo, Montenegro, Albanien, Bulgarien, Mazedonien, Serbien, Bosnien und Herzegowina – ist in Zugzwang. Lange sah sie tatenlos zu, verschloss Augen und Nase vor den Problemen. Doch ignorieren geht nicht mehr. Seit ein bis zwei Jahren fordern Nichtregierungsorganisationen und Bürgervereine mit Protestaktionen und Diskussionsplattformen konkrete Maßnahmen von den Regierenden. Die Politik reagiert bislang zögernd, passiv und hilflos. Aber die Zivilgesellschaft will nicht länger warten. Die Geduld ist am Ende. Und so werden selber Feinstaubsensoren auf den Balkonen aufgestellt und die Daten ständig online gesammelt. Klagen gegen Stadtverwaltungen werden eingereicht und konkrete Maßnahmen vorgeschlagen. Das Denkmal einer Ballerina im Zentrum von Sofia wird mit einer Gasmaske versehen. Eine Vorreiterrolle bei den verschiedenen Aktionen übernimmt die Bürgerorganisation »Rette Sofia«.

Privates Engagement gegen Smog in Sofia

Im letzten Jahr hat die Organisation viele Denkmäler von berühmten Persönlichkeiten im Zentrum Sofias mit Gasmasken und Schildern ausgestattet. Die Slogans: »Sofia – die europäische Hauptstadt des Smogs«, »Ich möchte atmen – jetzt!«, »Der Smog überdeckt alles, nur eine schlechte Politik nicht«. Seit 2015 engagieren sich die jungen Aktivisten in ihrer Freizeit für ein »besseres Sofia«, wie es auf ihrer Internetseite heißt. Infrastruktur, Mobilität und Luftqualität sind ihre Themen. Mit verschiedenen Open-Air-Aktionen wollen sie Aufmerksamkeit auf diese Probleme lenken, mit konkreten Vorschlägen die lokale Verwaltung zum Handeln bewegen und mit ihrem Engagement Sofia zu einem »normalen« Ort zum Leben machen. Gergin Borissov ist einer der Gründer von »Rette Sofia«.


Herr Borissov, wie hat die Stadtverwaltung auf Ihre Aktion mit den Gasmasken reagiert?

Die Verantwortlichen haben darauf mit einer PR-Aktion reagiert und neue Verkehrsbusse präsentiert. Das ist witzig, denn jedes Mal, wenn die Stadtverwaltung wegen Nichtstun kritisiert wird, präsentiert sie neue Busse. Einmal wurde eine Charge von Bussen sogar sechs Mal vorgestellt. Doch das löst die Probleme nicht. Es reicht nicht, einfach mehr Busse fahren zu lassen, sondern wie sie genutzt werden: Sind sie ausgelastet? Kommen sie pünktlich? Fahren sie die nötigen Strecken? All das ist nicht der Fall.

Ein Beispiel: Wir haben Busfahrstreifen gefordert. Die zuständige Ministerin hat uns zum Austausch eingeladen, wir haben mit ihren Experten im Ministerium gesprochen und am Ende wurde uns zugesichert, dass unser Anliegen umgesetzt werde. Die notwendigen Regelungen wurden mit uns gemeinsam erarbeitet und sind schließlich sogar gesetzlich in Kraft getreten. Das war vor eineinhalb Jahren. Bis heute gibt es keinen einzigen Busfahrstreifen in Sofia.

Verstehen Sie, es liegt nicht an fehlenden Gesetzen und Regeln, sondern an deren Umsetzung. An dem Willen. Für die Politiker ist es nur wichtig, dass sie eine Strategie, ein Dokument haben, das sie der Öffentlichkeit zeigen und sie damit beruhigen können. Und dann landet es in einer Schublade.

Wie reagiert die Öffentlichkeit auf Ihre Arbeit?

Am 2. Februar 2018 wird unsere Organisation drei Jahre alt. Vor drei Jahren waren die Themen, für die wir uns eingesetzt haben und immer noch einsetzen, wie Luftverschmutzung und Mobilität, überhaupt nicht im Bewusstsein der Öffentlichkeit. Das hat sich glücklicherweise geändert. Die Gesellschaft blickt heute kritisch auf die Arbeit der Stadtverwaltung. Die ersten Reaktionen lassen sich mit dem Satz beschreiben: »Besser nichts sagen, besser nicht einmischen.« Aber das hat sich geändert. Die Mehrheit versteht jetzt, dass die Administration da ist, um für sie, die Bürger, zu arbeiten. Und das fordern wir ein.

Geben Sie uns ein Beispiel für dieses neue öffentliche Bewusstsein.

In Sofia hat sich in den letzten zwei Jahren ein Netzwerk entwickelt, in dem Menschen eigene Sensoren für Feinstaubmessung in der ganzen Stadt betreiben. Noch 2015 hatte die Verwaltung nur fünf Stationen für die Messung der Luftqualität, davon eine auf dem Kopitoto (im Witoschagebirge, deutlich über dem Smog, Anm. d. Red.) und diese war natürlich immer im grünen Bereich. Hinzu kommt, dass eine der verbliebenen vier Stationen immer sehr schlechte Luftwerte ausgewiesen hat, wonach die Verwaltung sie mit der Begründung abschaltete, dass dort derzeit gebaut werde und es deswegen staubig sei. Aber dafür ist das Ding ja da, um die Staubbelastung zu messen.

Die Öffentlichkeit war sehr verärgert, Unmut machte sich breit. Auf einmal zeigten die Messstationen nur noch sehr gute Werte. Die Stadt hat diese Veränderung so erklärt, dass sich die Formel für die Messung geändert habe. Daraufhin verloren die Menschen auch das letzte Vertrauen. Als Reaktion gründete sich dieses Netzwerk und ganz Sofia wurde mit Feinstaubsensoren abgedeckt. Auf einmal kam die Wahrheit zutage. Zunächst ignorierte die Stadtverwaltung diese Werte. Doch jüngst hat die Stadt eingelenkt und versprochen, den Messwerten Achtung zu schenken. Ein Riesenerfolg für die gesamte Zivilgesellschaft, die sich seit Jahren für die Lösung dieser Probleme einsetzt.

In den letzten Wochen und Monaten zeigt sich die Verwaltung engagiert, das Problem Luftverschmutzung zu bekämpfen. Begrüßen Sie die aktuellen Maßnahmen?

Alle Maßnahmen, die die Stadtverwaltung anfang dieses Jahres beschlossen hat, sind reagierende Maßnahmen. Wir fordern präventive Maßnahmen. Wenn beispielsweise die Prognose zeigt, dass es in zwei Tagen eine hohe Konzentration von Feinstaub geben wird, müssen Maßnahmen dem entgegenwirken, wie etwa ein Verbot, mit Kaminen zu heizen. Aber solche Maßnahmen existieren nicht. Die Verwaltung will sehen, wie viele Tage die Bürger durchhalten, bis sie handeln muss. Das sogenannte Grüne Ticket wurde eingeführt. Damit können Sofioter für 50 statt 80 Cent Bus, Bahn und Metro fahren. Aber das Ticket ist erst gültig, wenn an drei aufeinanderfolgenden Tagen die Werte über 200 Mikrogramm je Kubikmeter lagen. Also drei Tage »ersticken« und erst dann darf man den öffentlichen Nahverkehr günstiger nutzen. Eine andere von der Stadt beschlossene Maßnahme ist, am ersten Tag einer Überschreitung der Werte die Bürger aufzufordern, mehr Bus und Bahn zu fahren. Dieser Appell wird von Jordanka Fandakowa (Bürgermeisterin von Sofia, Anm. der Red.) über Facebook verbreitet. Eine freundliche Bitte, mehr nicht. Wenn dem freundlichen Aufruf viele Menschen folgen, dann passiert Folgendes: Alle Busse und Bahnen sind überfüllt. Die Menschen müssen lange Wartezeiten in Kauf nehmen und kommen zu spät an. Die Verkehrsbetriebe werden einfach nicht informiert und setzen deshalb nicht mehr Busse und Bahnen ein.

Beschreiben Sie uns, was Sie sehen, wenn Sie jetzt aus Ihrem Fenster blicken.

Ich arbeite in einem modernen Bürohochhaus. An guten Tagen kann ich das Witoscha- und das Balkangebirge sehen. Heute, wenn ich in die Ferne blicke, sehe ich die Stadt, als ob sie im Nebel erstickt, eine graue Linie am Horizont, darüber der blaue Himmel. Und auf der anderen Seite sehe ich ein Wohnviertel, in dem alle im Schlamm parken, weil es keine Straßen gibt und schon gar keine Parkplätze, kein einziger Baum wächst dort. Die Gebäude dicht an dicht, kein Raum zum Atmen.

Wenn man aus dem achten Stockwerk nach unten schaut, sieht man nur Autos, Mütter gehen mit den Kinderwagen dazwischen spazieren – keine Bürgersteige, keine Parks, keine Spielplätze. Wieso ist das so?

Eines der größten Probleme in Sofia ist das Parken. Autos werden auf den Grünflächen abgestellt, die nach kürzester Zeit braun werden. An der Stelle kann einfach nichts Grünes wachsen. Die Kontrolle des Parkens liegt in der Verantwortung von drei Institutionen: der Polizei, der Zentrale für Stadtmobilität und der Stadtverwaltung. Das hat zur Folge, dass sich alle gegenseitig die Schuld für die Missstände in die Schuhe schieben und am Ende keiner schuld ist. Es gibt keine effektive Kontrolle. Die Stadt muss entscheiden, was sie mit den Grünflächen machen will: entweder echte Parkplätze oder echte Grünflächen, auf denen das Parken verboten ist, und das Verbot dann auch umsetzen. Diese Entscheidung muss die Stadt treffen und dann wird klar, für welche Politik sie steht.

Wie geht es weiter für Sie und Ihre Organisation?

Wir haben zusammen mit anderen Organisationen die Stadt Sofia verklagt. Grundlage der Klage ist ein fehlender Aktionsplan zwischen 2015 und 2017. Dieser ist laut Gesetz verpflichtend für jede Stadtverwaltung. Ende vergangenen Jahres wurde zwar ein Aktionsplan beschlossen, dieser adressiert jedoch keine gravierenden Probleme der Stadt. Hinzu kommt, dass die meisten vorgestellten Maßnahmen nicht verpflichtend, sondern freiwillig sind. Darüber hinaus wird nicht beschrieben, wie und wo die konkrete Umsetzung erfolgen soll, welchen Zweck sie verfolgen oder wie die Ergebnisse kontrolliert werden. Wir machen weiter und werden auf die Probleme aufmerksam machen. Es bleibt uns nichts anderes übrig.


Langsames Umdenken
Doch die Verwaltung will das Problem aussitzen. Der Kampf gegen die Luftverschmutzung erfordert viele Maßnahmen und ein Umdenken, zu der die Politik noch nicht bereit ist – weder mental noch ressourcentechnisch.

Bevölkerung und Politik waren für Umweltthemen nie wirklich sensibilisiert, sie waren einfach nicht präsent. Im Sozialismus verpestete die Schwerindustrie die Städte, aber das wurde nicht aufgearbeitet. Genauso, wie man Tschernobyl »verstecken« wollte – genauso haben die Regime damals diese Themen nicht öffentlich diskutiert. In den 90ern waren andere Themen wichtiger: Armut, Hunger, Inflation, Privatisierung, Korruption, Arbeit. Erst seit drei bis vier Jahren gewinnen Umweltthemen an Bedeutung – zum einen, weil viele junge Menschen im Ausland studiert und gesehen haben, wie über Luftverschmutzung in westeuropäischen Ländern berichtet wird, und zum zweiten, weil die existentiellen Fragen wie »Wann kommt die nächste Brotkrise?«, »Wann kommt die nächste Inflationskrise?« oder »Wann kommt der nächste Diktator?« nicht mehr aktuell sind.

Die Politik wurde jetzt von der Zivilgesellschaft überrascht – die Menschen fordern ihre Rechte ein, aber die Politik ist aufgrund verkrusteter Strukturen nicht fähig, so schnell zu reagieren. Zumindest aber ignoriert sie das Problem nicht mehr und versucht zu handeln. Bisher jedoch sehr langsam und widerwillig.

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Autor:innen

Freie Multimediajournalistin für die Deutsche Welle, Deutschlandfunk und die ARD

Schwerpunkt
Länder des Balkans

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