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Binnenstaaten

Ohne Hafen – isoliert und unterentwickelt

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Einmal ans Meer fahren und die Wellen an der Küste brechen sehen. Um sich diesen Traum zu erfüllen, müssen die Bewohner von 45 Staaten zumindest eine internationale Grenzen überqueren. Es handelt sich bei diesen Ländern um sogenannte Binnenstaaten, also Länder ohne direkten Zugang zu den großen Weltmeeren. Ihre Grenzen sind komplett von der Landmasse ihrer Nachbarstaaten umschlossen.

Im Falle von Usbekistan und Liechtenstein handelt es sich bei den Nachbarstaaten wiederum um Binnenstaaten, weshalb diese beiden als die einzigen doppelten Binnenstaaten der Erde gelten. Einige wenige Länder können diesen Nachteil durch ihr Recht auf das Befahren internationaler Flüsse, die in die Weltmeere münden, teilweise kompensieren – der Großteil jedoch nicht, auch weil Flüsse für große Containerschiffe meist ohnehin viel zu klein sind.

Dennoch ist die Zahl 45 keineswegs als starr zu verstehen. Beinahe im selben Maße, wie sich internationale Grenzen aufgrund verschiedenster geopolitischer Entwicklungen regelmäßig verschieben, fluktuiert auch die Anzahl der Binnenstaaten. Der grundlegende Trend zu mehr Nationalstaaten ließ die Zahl von Binnenstaaten vor allem in den letzten Jahrzehnten steigen.

Äthiopiens Wunsch nach einem direkten Meerzugang und größerer wirtschaftlicher und militärischer Unabhängigkeit waren stets Mitgründe für das angespannte Verhältnis zu Eritrea

Durch die Unabhängigkeitserklärungen beispielsweise Eritreas von Äthiopien (1993), Montenegros von Serbien (2006) oder auch die Abspaltung des Südsudans vom Sudan (2011) verloren erst kürzlich Äthiopien, Serbien und der Südsudan ihren direkten Zugang zum Meer.

Dass solche Entwicklungen mitunter durchaus Konfliktpotential in sich bergen, wurde durch den Äthiopien-Eritrea-Krieg Ende des 20. Jahrhunderts blutig bestätigt. Äthiopiens Wunsch nach einem direkten Meerzugang und größerer wirtschaftlicher und militärischer Unabhängigkeit waren stets Mitgründe für das angespannte Verhältnis beider Länder. In der jüngeren Weltgeschichte finden sich viele vergleichbare Fälle.

Dem Binnenstaat Bolivien sind durch seinen Küstenverlust infolge des Salpeterkrieges Ende des 19. Jahrhunderts ein Fünftel seines potentiellen Bruttoinlandsproduktes entgangen

Der Hafen als Tor zur Welt
Gäbe es globalen Freihandel, könnte jeder Staat seine Güter frei von Handelsbarrieren importieren und exportieren. Es wäre dann in dieser Hinsicht kein Nachteil mehr, ein Binnenstaat zu sein. Bislang blieb dieser Wunsch der Globalisierungsbefürworter allerdings noch unerfüllt, was die Sehnsucht von Binnenstaaten nach einem direkten Zugang zu den Meeren erklärt. Abgesehen von den touristischen, militärischen und kommerziellen Nutzungsmöglichkeiten der Küstengewässer spielen dabei vor allem Häfen eine entscheidende Rolle für den internationalen Handel. In Friedenszeiten bieten sie eine sichere und effiziente Umschlagstelle für Exporte in und Importe aus weit entfernten Ländern.

Neben Handelsgütern boten Häfen in der Vergangenheit vor allem aber auch eine Anlaufstelle für Ideen und technologische sowie institutionelle Innovationen aus anderen Regionen. Fabrizio Carmignani von der Griffith-Universität in Australien errechnete, dass beispielsweise dem Binnenstaat Bolivien durch seinen Küstenverlust infolge des Salpeterkrieges Ende des 19. Jahrhunderts ein Fünftel seines potentiellen Bruttoinlandsproduktes entgangen sind.

Entgegen der gängigen Lehrmeinung fand Carmignani heraus, dass Binnenstaaten nicht direkt unter den negativen Effekten des erschwerten Handels leiden

Entgegen der gängigen Lehrmeinung fand Carmignani jedoch heraus, dass Binnenstaaten nicht direkt unter den negativen Effekten des erschwerten Handels leiden. Vielmehr handle es sich um eine indirekte Folge schwacher Institutionen. Die schwer zugängliche Lage von Binnenstaaten beispielsweise in Afrika veranlasste Kolonialmächte oft dazu, den institutionellen Fortschritt in diesen Regionen zu vernachlässigen. Stattdessen konzentrierten sie sich auf die Ausbeutung der dortigen Ressourcen. Gepaart mit einem Mangel an interkulturellem Austausch und fehlender Innovation wirkte sich dies auf die Entwicklung verheerend aus.

Mangelnde Innovation beeinträchtigt Handel und Entwicklung
Vor allem in Afrika, wo sich die meisten Binnenstaaten, nämlich 16, befinden, sind die verheerenden wirtschaftlichen Folgen der Isolation zu erkennen. Das Bruttoinlandsprodukt afrikanischer Küstenstaaten ist im Vergleich durchschnittlich 40 Prozent höher als jenes von vergleichbaren Binnenstaaten.

Im Human Development Index (HDI) von 2016, einem Wohlstandsindikator für Staaten, liegen mit der Zentralafrikanischen Republik, Niger, Tschad, Burkina Faso und Burundi gleich fünf afrikanische Binnenstaaten auf den letzten Plätzen. Diese Situation hat ihre Gründe mitunter in den logistischen Mehrkosten und Handelsbarrieren durch den Weitertransport an Land. In zentralasiatischen und afrikanischen Binnenstaaten sehen sich Händler laut Weltbank mit mindestens drei signifikanten Transit- und Freigabehürden konfrontiert.

Das Errichten von Straßenblockaden und das Einfordern von Bestechungsgeldern seitens von Behörden oder kriminellen Banden ist auch heute noch an vielen internationalen Grenzen üblich

Neben der Zollabfertigung im Hafen und der finalen Abnahme in der Zielstadt gilt vor allem die zwischenzeitliche Überquerung der internationalen Grenze als großer Unsicherheitsfaktor. Lange Wartezeiten schrecken potentielle Investoren dabei ebenso ab wie die zusätzlichen Kosten beim Grenzübertritt. Das Errichten von Straßenblockaden und das Einfordern von Bestechungsgeldern seitens von Behörden oder kriminellen Banden ist auch heute noch an vielen internationalen Grenzen üblich.

Das europäische Modell als Ausweg?
Die einzigen hochentwickelten (HDI Top 50) Binnenstaaten der Erde befinden sich in Europa. Somit drängt sich die Frage auf, ob diese als Vorbilder für landumschlossene Staaten in anderen Regionen gelten könnten. Tatsächlich sind die europäischen Vertreter aus der höchsten Entwicklungskategorie durchweg EU-Staaten, oder – wie die Schweiz – eng mit deren Wirtschafts- und Handelsinstitutionen assoziiert.

Zudem spezialisierten sich die erfolgreichsten Staaten wie die Schweiz oder auch Luxemburg im Finanzwesen, dessen Handelsgüter internationale Grenzen ohne Mühe, heute zumeist digital, in Millisekunden überqueren. Auch herkömmliche Produkte können dank des freien Warenverkehrs innerhalb der EU weit einfacher und kostengünstiger gehandelt werden.

Das europäische Modell wäre ein Beispiel für die Integration, die Binnenstaaten in Afrika, Zentralasien oder Südamerika den notwendigen wirtschaftlichen Aufschwung bringen könnte

Das europäische Modell wäre demnach grundsätzlich ein Beispiel für die dringend benötigte institutionelle Integration, die auch Binnenstaaten in Afrika, Zentralasien oder Südamerika den notwendigen wirtschaftlichen Aufschwung bringen könnte. Diese bleibt wegen ihrer Komplexität und jahrzehntelangen Vorlaufphase in dieser Form allerdings wohl noch einige Generationen lang reine Utopie, auch wenn Projekte wie die 2016 in Betrieb genommene internationale Güter- und Personenzugstrecke zwischen der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba und dem Hafen in Dschibuti zwischenzeitlich Hoffnung gaben.

Das Almaty-Aktionsprogramm von 2003, beschlossen auf einer Konferenz der Vereinten Nationen zu den speziellen Bedürfnissen von Binnenstaaten, versuchte unterdessen, den infrastrukturellen Handelsdefiziten von Binnenstaaten durch Förderprogramme für den Abbau von Handelsbarrieren zu entgegnen. Die Weltbank und viele Staaten steckten voller Hoffnung große Summen in diese Programme.

Carmignanis Studie stellt die Herangehensweise nun jedoch infrage. Er plädiert für komplexere und umfassendere programmatische Ansätze, die dem grundlegenden wirtschaftlichen Problem von Binnenstaaten begegnen soll: deren institutionelle Schwäche. Elf Jahre nach der Almaty-Konferenz wurden 2014 auf einer zweiten Spezialkonferenz zu Binnenstaaten in Wien deren schleppende Fortschritte aufgezeigt und kritisiert. Auch wenn das neue Aktionsprogramm umfassender und inklusiver sein sollte, spielen Maßnahmen zur institutionellen Stärkung wieder nur eine untergeordnete Rolle.

Dieser Beitrag erschien in der sechsten Ausgabe von KATAPULT. Abonnieren Sie das gedruckte Magazin. Das ist bequem für Sie und unterstützt unsere Arbeit.

[1] Vgl. Carmignani, Fabrizio: The Curse of Being Landlocked: Institutions Rather than Trade, in: The World Economy, Oxford (38)2015, H. 10, S. 1594–1617.
[2] Vgl. o.A.: The economics of landlocked countries. Interiors. Why it’s better to have a coastline, auf: economist.com (9.5.2015).
[3] Der Index der menschlichen Entwicklung ist ein Wohlstandsindikator für Staaten und wird von der UNO herausgegeben.
[4] Vgl. United Nations Development Programme (Hg.): Human Development Report 2016, New York 2016.
[5] Vgl. O.A.: Landlocked Countries: Higher Transport Costs, Delays, Less Trade, auf: worldbank.org (16.6.2008).
[6] Das von China exzessiv subventionierte und realisierte Projekt bekämpft letztendlich wohl auch eher die Symptome der binnenstaatlichen Innovationsfalle als deren institutionelle Gründe.
[7] United Nations: Almaty Declaration, A/CONF.202/L.2.
[8] United Nations: Vienna Programme of Action for Landlocked Developing Countries for the Decade 2014-2024, A/CONF.225/L.1.

Autor:innen

Ehemaliger Praktikant bei KATAPULT.

Schwerpunkte
Kritische Geopolitik
Grenzstreitigkeiten
Terrorismus
Sicherheitsforschung

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