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Ungarn

Rechtsstaat in Gefahr

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Ende März stattete das ungarische Parlament den Ministerpräsidenten Viktor Orbán mit fast unbegrenzter Macht aus. Der Grund dafür war offiziell die Covid-19-Pandemie: Die Regierung sollte durch ein Notstandsgesetz in der Lage sein, notwendige Maßnahmen im Kampf gegen das neue Coronavirus zu erlassen. Orbán kann somit zeitlich unbegrenzt per Dekret regieren. Alle Referenden und Wahlen dürfen momentan nicht stattfinden. Wer „Falschnachrichten“ verbreitet, dem drohen bis zu fünf Jahre Gefängnis.

Ursula von der Leyen, die ihre Wahl zur EU-Kommissionspräsidentin auch Orbáns Fidesz-Partei verdankt, reagierte zögerlich und äußerte ihre Besorgnis. Rund zwei Wochen dauerte es, bis sie schließlich die Möglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Ungarn in Aussicht stellte. Die EU-Kommission hat in den letzten Jahren bereits zahlreiche solcher Verfahren gegen Ungarn angestoßen. Zwar können diese Prozesse teuer für den betroffenen Staat werden, wenn sie nach vielen Monaten vor dem Europäischen Gerichtshof landen. Doch der ungarische Verfassungsrechtler Gábor Halmai notierte 2018: „Im Kampf um die Rechtsstaatlichkeit mit der ungarischen und der polnischen Regierung haben sich die EU-Institutionen bisher als unfähig erwiesen, die Einhaltung der europäischen Grundwerte durchzusetzen.“ Vertragsverletzungsverfahren in ihrer bisherigen Form wären in Ungarn kein sonderlich effektives Instrument gewesen.

Polen und Ungarn helfen sich gegenseitig

Das Covid-19-Notstandsgesetz ist nur das jüngste Kapitel einer Entwicklung, die seit bald einem Jahrzehnt andauert. Bis heute findet die EU keine Antwort auf die zunehmende Autokratisierung Ungarns. Im September 2018 entschied sich das Europäische Parlament deshalb dazu, mit einer Zweidrittelmehrheit ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags einzuleiten. Damit fordert es den EU-Ministerrat auf, festzustellen, ob Ungarn EU-Grundwerte wie Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit verletzt.

Dieses Verfahren kann mittelfristig zur schärfsten europarechtlichen Maßnahme führen: Sanktionen wie der Aussetzung des Stimmrechts des betroffenen Staates im Ministerrat. Zuvor müsste der Europäische Rat – also das Gremium der Staats- und Regierungschefs – jedoch einstimmig eine anhaltende Verletzung von EU-Grundwerten feststellen. Da sich Polens und Ungarns rechtsnationale Regierungen gegenseitig decken, ist das sehr unwahrscheinlich.

Der ehemalige liberale Bildungsminister Bálint Magyar beschreibt Orbáns Ungarn als „Mafia-Staat“. Das Land würde eigentlich nicht von einer Partei, sondern vom politisch-ökonomischen Clan Orbáns regiert. Dieser betrachte die Gesellschaft als seinen Privatbesitz und halte eine demokratische Fassade nur noch formal aufrecht: „Ihr Ziel ist es, die Gegner des Clans zu Fall zu bringen, Vermögen und Vermögenswerte an Loyalisten umzuverteilen. Orbán nutzt die leidenschaftslosen Mittel des bürokratischen Zwangs, handelt aber dennoch illegal: Korruption und politisch selektive Strafverfolgung stehen im Zentrum seines Systems.

Wie man eine Demokratie schwächt

Diese Entwicklung begann mit den Wahlen von 2010. Orbáns Fidesz-Partei errang im Verbund mit der Christlich-Demokratischen Volkspartei die Zweidrittelmehrheit im Parlament. Sogleich nutzte Fidesz seine Übermacht, um ein neues Grundgesetz zu schreiben: Die Kompetenzen des Verfassungsgerichts wurden beschnitten, der Schutz von Grundrechten ausgehöhlt und der Einsatz von Schwerpunktgesetzen massiv auf diverse Politikfelder ausgeweitet. Diese Bereiche können nur noch durch eine Zweidrittelmehrheit geregelt werden, was es künftigen Regierungen besonders schwer macht, von Fidesz verabschiedete Gesetze wieder zu ändern.

In den nächsten Jahren folgten sieben weitere Änderungen des Grundgesetzes. 2013 wurden die Befugnisse des Verfassungsgerichts noch massiver zusammengeschrumpft und die Einschränkung der Meinungsfreiheit wurde erlaubt, wenn das dem Schutz der „Würde der ungarischen Nation“ diene. 2018 folgte ein Verbot der „Ansiedlung fremder Völker“ in Ungarn.

Presse im Besitz Orbán-freundlicher Unternehmer

Exemplarisch für die schwindende Demokratie in Ungarn steht die Einschränkung der Pressefreiheit. 2005 war Ungarn laut der Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen noch auf Platz 12 der Länder mit der freiesten Presse. Mittlerweile ist es auf Rang 89. Die Organisation schreibt: „Seit Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei 2010 an die Regierung gekommen sind, haben sie Ungarns Medienlandschaft Schritt für Schritt unter ihre Kontrolle gebracht.“ Die Regionalpresse sei seit Sommer 2017 vollständig im Besitz Orbán-freundlicher Unternehmer. Kritische überregionale Medien wie die Zeitungen Népszabadság und Magyar Nemzet wurden eingestellt.

Darüber hinaus schränkte die Orbán-Regierung die Wissenschaftsfreiheit ein, drängte eine Universität ins Exil, kriminalisierte Obdachlose, betreibt antisemitische und rassistische Kampagnen und drangsaliert die Zivilgesellschaft, Flüchtlingshelfer und Nichtregierungsorganisationen.

Optionen der EU

Was kann die EU also tun, um in Ungarn rechtsstaatliche und demokratische Strukturen wieder zu stärken, wenn nennenswerte Kursänderungen durch Artikel-7- oder Vertragsverletzungsverfahren eher unrealistisch erscheinen? Die Kommission strebt etwa die Möglichkeit an, Zahlungen aus dem EU-Haushalt an Mitgliedstaaten reduzieren oder streichen zu können, wenn allgemeine rechtsstaatliche Mängel bestehen. Dieser Mechanismus existiert bislang jedoch noch nicht. Zudem gibt es gegenwärtig Versuche, ihn deutlich abzuschwächen. Grundsätzlich sind bessere Überwachungsmechanismen geplant, um Krisen der Rechtsstaatlichkeit früher zu erkennen. Eine andere Möglichkeit wäre, Vertragsverletzungsverfahren auszuweiten, sodass diese auf systematische und schwerwiegende Verletzung der Werte der EU angewendet werden können.

Andere Wissenschaftler und auch EU-Parlamentarier argumentieren, dass es der Kommission bereits möglich sei, die Milliardenzahlungen aus den Europäischen Struktur- und Investitionsfonds zu kürzen. Die bestehenden Regeln sehen nämlich vor, dass es wirksame Mechanismen zur Kontrolle der Mittelverteilung und -verwendung geben muss. Hat ein Land aber seinen Rechtsstaat geschwächt, sei es mehr als fraglich, inwiefern diese Kontrolle noch garantiert werden kann und somit sei die Einstellung von Zahlungen möglich. Kritiker werfen der Kommission vor, dass es ihr am politischen Willen mangle, entschlossen gegen Ungarn vorzugehen.

Gerade finanzielle Maßnahmen dürften Orbán empfindlich treffen – doch es gibt einen weiteren Aspekt, der Brüssel zur Zurückhaltung mahnt: die Befürchtung, dass massiver Druck von außen Orbán nicht etwa schwächen, sondern weiter stärken könnte. Eine Studie im Journal of European Public Policy zeigt, wie real die Gefahr ist, dass autoritäre Regierungen EU-Interventionen erfolgreich als Angriff einer fremden Macht auf die ganze Nation darstellen. Diese Situation nutzen sie, um sich selbst als einzigen effektiven Schutz gegen diese äußere Bedrohung zu inszenieren.

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Fußnoten

  1. Veyder-Malberg, Thyra: Orbán bekommt nahezu unbegrenzte Macht, auf: mdr.de (30.3.2020); Eine englische Übersetzung des Gesetzes ist hier zu finden.
  2. Fritz, Philipp; Boris Kalnoky: Was sich Osteuropas Hardliner von von der Leyen erhoffen, auf: welt.de (17.7.2019).
  3. o.A.: Ursula von der Leyen droht Ungarn mit Strafverfahren, auf: zeit.de (12.4.2020).
  4. Halmai, Gábor: The possibility and desirability of economic sanction: Rule of law conditionality requirements against illiberal EU Member States, European University Institute Working Paper LAW (2018), S. 20.
  5. Europäisches Parlament: Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und Polen: Fortschritt der Artikel-7-Verfahren, auf: europarl.europa.eu (9.1.2020).
  6. Zumindest theoretisch bestände wohl die Möglichkeit eines gemeinsamen Artikel-7-Verfahrens gegen Polen und Ungarn. Vgl. Thiele, Alexander: Art. 7 EUV im Quadrat? Zur Möglichkeit von Rechtsstaats-Verfahren gegen mehrere Mitgliedsstaaten, auf: verfassungsblog.de (24.7.2017).
  7. Magyar, Bálint; Bálint Madlovics: Ungarn: Ein Mafia-Staat kämpft für Straffreiheit, auf: derstandard.at (25.6.2019).
  8. Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Hg.): Stellungnahme zur neuen Verfassung Ungarns, auf: europarl.europa.eu (20.6.2011); Halmai, Gábor: Hochproblematisch: Ungarns neues Grundgesetz, in: Osteuropa 12/2011.
  9. Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Ungarns Parlament verabschiedet weitreichende Verfassungsänderung, auf: bpb.de (12.3.2013).
  10. Lambert, Sean: Amendments to the Fundamental Law, auf: theorangefiles.com (21.6.2018).
  11. Reporter ohne Grenzen (Hg.): Rangliste der Pressefreiheit 2020, auf: rsf.org.
  12. Mayer, Gregor: Central European University zu Abzug aus Budapest gezwungen, auf: derstandard.at (4.12.2018).
  13. Jámbor, András: Criminalization of homeless people in Hungary is taken a step further, auf: boell.de (26.10.2018).
  14. Mijnssen, Ivo: Wie George Soros vom Messias zum Volksfeind wurde, auf: nzz.ch (14.5.2019).
  15. Verseck, Keno: Wie Orbán die Helfer in Ungarn drangsaliert, auf: spiegel.de (2.7.2018).
  16. Zalan, Eszter: EU leaders face major clash on rule of law budget link, auf: euobserver.com (19.2.2020)
  17. Mańko, Rafał: Protecting the rule of law in the EU Existing mechanisms and possible improvements, European Parliamentary Research Service Briefing, auf: europarl.europa.eu (November 2019).
  18. Scheppele, Kim Lane: Enforcing the Basic Principles of EU Law through Systemic Infringement Actions, in: Carlos Closa: Reinforcing Rule of Law Oversight in the European Union, Cambridge 2016.
  19. Keleman, Daniel; Kim Lane Scheppele: How to Stop Funding Autocracy in the EU, auf: verfassungsblog.de (10.10.2018).
  20. Schlipphak, Bernd; Oliver Treib: Playing the Blame Game on Brussels. The Domestic Political Effects of EU Interventions Against Democratic Backsliding, in: Journal of European Public Policy 3 (2017).

Autor:innen

Ist seit 2019 Redakteur bei KATAPULT. Studierte Islamwissenschaft und Zeitgeschichte. Journalistische Schwerpunkte: Kriege und Konflikte, internationale Politik, Autoritarismus und Menschenrechte.

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