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Inklusion in der Schule

Warum sich Eltern und Lehrer davon abwenden

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Immer mehr Kinder in Deutschland haben aufgrund einer physischen oder psychischen Einschränkung in der Schule einen besonderen Förderbedarf. Doch während Wissenschaft und Politik schon lange inklusive Schulsysteme für einen gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung befürworten, führt das Konzept in der Praxis noch immer zu Problemen. Studien zeigen: Nur wenige profitieren von inklusiven Strukturen. Denn Schulen und Lehrkräfte sind zu wenig auf solche Unterrichtsformen vorbereitet.

2009 hat sich Deutschland mit dem Bekenntnis zur UN-Behindertenrechtskonvention klaren Zielen verschrieben: Menschen mit Behinderung dürfen nicht diskriminiert werden. Sie sollen politisch beteiligt werden, nach Möglichkeit ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, die gleichen schulischen Erfahrungen machen können wie Menschen ohne Behinderung und Zugang zu integrativem und hochwertigem Unterricht bekommen. Die Realität sieht allerdings anders aus. Fast 545.000 Kinder hatten in Deutschland im Jahr 2019 besonderen Förderbedarf, 16 Prozent mehr als im Jahr 2009. Doch die meisten von ihnen besuchen eine separate Förderschule, statt an regulären Schulen unterrichtet zu werden. Denn diese stehen durch den erhöhten »Inklusionsdruck« vor schweren strukturellen Problemen.

Inklusion bedeutet, dass Menschen mit einer Einschränkung nicht nur in eine Gruppe nichtbehinderter integriert werden. Im Vordergrund steht vielmehr ein heterogenes Miteinander, in dem jeder die Möglichkeit haben soll, am Geschehen innerhalb der Gruppe teilzuhaben. Im schulischen Kontext bedeutet das beispielsweise, dass Kinder mit und ohne Behinderung gleichberechtigt miteinander in einer Klasse lernen.

An Förderschulen ist dies nicht der Fall. Kinder mit Behinderung werden dort getrennt von nichtbehinderten unterrichtet. In der Wissenschaft wird dies zunehmend kritisch betrachtet: Viele Forscher gehen davon aus, dass ein solches System die Bildungschancen von Kindern mit Einschränkungen verschlechtert. Deshalb streben beispielsweise die Vereinten Nationen und die OECD-Staaten seit einigen Jahren inklusive Strukturen im Bildungswesen an.

Der 2011 verabschiedete Nationale Aktionsplan soll Inklusion als gemeinsames Ziel aller Länder setzen und voranbringen, dass Kinder mit und ohne Behinderung gemäß ihren individuellen Bedürfnissen gefördert werden. Dennoch gibt es in Deutschland keine offizielle Definition, was Inklusion an Schulen beinhalten muss. Jedes Bundesland kann selbst darüber entscheiden. Doch zumindest können Ex- und Inklusion mit der sogenannten Separationsquote gemessen werden. Diese beschreibt den Anteil von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die eine separate Förderschule besuchen.

Viel Inklusion in Thüringen und Schleswig-Holstein, wenig in Bayern und Baden-Württemberg

Deutschland steht einer Studie zufolge hierbei eigentlich gar nicht so schlecht da: Die Separationsquote ist im Bundesdurchschnitt von 4,9 Prozent im Jahr 2009 auf 4,3 Prozent im Jahr 2017 gesunken. Von den insgesamt knapp 7,3 Millionen Schulkindern besuchten 2017 demnach etwa 317.500 Kinder mit Förderbedarf eine gesonderte Einrichtung, knapp 230.000 lernten an allgemeinen Schulen gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung.

Doch nicht alle Kinder mit Handicap profitieren von diesem Fortschritt. Nur Schüler mit bestimmten Einschränkungen werden seit 2009 häufiger in reguläre Klassen inkludiert. Dazu gehören beispielsweise Mädchen und Jungen mit Lernschwäche. 2017 hat sich ihre Anzahl an den Förderschulen beinahe halbiert. Auch Kinder mit Sprachproblemen lernen immer häufiger an Regelschulen. Für Kinder mit emotionalen und sozialen Einschränkungen oder geistigen Behinderungen hat sich die Lage dagegen verschlechtert. 2017 besuchten deutlich mehr von ihnen gesonderte Förderschule als noch 2009.

Zu einheitlichen Fortschritten hat der Nationale Aktionsplan nicht geführt. Die Inklusion an den Schulen hat sich in den einzelnen Bundesländern seit 2009 sehr unterschiedlich entwickelt. Vor allem in den Stadtstaaten, Thüringen und Schleswig-Holstein besuchen deutlich weniger Kinder separate Förderschulen. Vor allem Bremen sticht dabei hervor: Zwischen 2009 und 2017 hat sich der Anteil der Schüler an gesonderten Einrichtungen um 75 Prozent verringert. Nur noch 1,2 Prozent aller Kinder besuchen hier eine solche Schule.

Fortschritte haben zwar auch Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern gemacht. Doch wie schon vor knapp zehn Jahren ist hier die Trennung nach wie vor am stärksten ausgeprägt. Mit einer Separationsquote von etwa sechs Prozent liegen diese Bundesländer deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Am schlechtesten schneiden Rheinland-Pfalz, Bayern und Baden-Württemberg ab. Hier gehen sogar mehr Kinder auf Förderschulen als noch 2009.

Wenig Unterstützung für Lehrpersonal

Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland viel vorgenommen. Die Ziele, ein inklusives Schulsystem zu etablieren und Kinder mit und ohne Behinderung gleichermaßen nach ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten zu fördern, hat die Bundesrepublik aber nur teilweise erreicht.

Jörg Dräger, Vorsitzender der Bertelsmann-Stiftung, sieht das Hauptproblem in den Schulen selbst: Viele Lehrkräfte empfinden Unbehagen beim Thema Inklusion. Sie müssen besser betreut und unterstützt werden, um Kinder mit und ohne Einschränkungen angemessen zu beschulen. Ähnliche Ergebnisse liefert eine Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2019 unter 500 Lehrenden in Baden-Württemberg, von denen 117 selbst inklusive Klassen unterrichten. Zwar sind viele von ihnen der Ansicht, dass inklusive Klassen Berührungsängste und Vorurteile abbauen und Kinder mit und ohne Behinderung voneinander lernen und profitieren können. Doch immer weniger von ihnen halten inklusive Klassen für sinnvoll. Vergangenes Jahr unterstützten nur noch 56 Prozent der Lehrkräfte den gemeinsamen Unterricht. 16 Prozent schlossen gänzlich aus, dass eine Regelschule dem erhöhten Förderbedarf von Kindern mit Einschränkungen nachkommen kann.

Während immer mehr Kinder mit Behinderung eine Regelschule besuchen, stehen Lehrer dem Thema Inklusion zunehmend kritisch gegenüber. Viele der Befragten waren der Ansicht, dass es an Regelschulen zu wenig Personal gebe, um alle Kinder adäquat zu betreuen: Inklusive Lerngruppen würden meist nur von einer Person geleitet. Der Forsa-Umfrage zufolge beschäftigten nur etwas mehr als die Hälfte der Schulen mit inklusiven Lerngruppen sonderpädagogisches Fachpersonal. Und wenn, dann standen diese den Lehrern meistens nur zu bestimmten Zeiten zur Seite.

Ausbildungsmöglichkeiten mangelhaft

Auch die Möglichkeiten zur Fort- und Ausbildung für inklusive Themen kritisierten viele Lehrkräfte. 36 Prozent von ihnen hielten diese für mangelhaft oder ungenügend und nur bei drei Vierteln war Inklusion überhaupt Teil der Ausbildung. Hinzu kommt, dass knapp die Hälfte der Lehrer ihre Schulen als nicht barrierefrei einschätzten. Ein großes Problem ist zudem, dass die Lehrenden mit den physischen und psychischen Mehrbelastungen durch den inklusiven Unterricht selbst zurechtkommen müssen. Nur zehn Prozent von ihnen gaben an, persönliche Unterstützung zu erhalten.

Aus Lehrersicht sind die Lösungsansätze klar: Sie wünschen sich Entlastung. Inklusive Schulen müssen mehr Sonderpädagogen beschäftigen, die die Lehrkräfte unterstützen und mit ihnen gemeinsam inklusive Lerngruppen betreuen. Das Angebot an Fortbildungen muss verbessert und optimalerweise direkt in die Ausbildung aufgenommen werden.

Elternperspektive: Zusammenleben okay, gemeinsam zur Schule gehen nicht Ähnlich differenziert betrachten Eltern das Thema. Einer Studie der Organisation Aktion Mensch zufolge halten es zwar fast alle von ihnen für wichtig, dass Menschen mit und ohne Behinderung gleichberechtigt miteinander zusammenleben. Geht es um schulische Inklusion, fällt die Antwort allerdings deutlich kritischer aus: Etwa die Hälfte der Eltern, deren Kinder inklusive Klassen besuchen, sind der Meinung, dass ein inklusives Schulsystem leistungsstarke Kinder ausbremse.

Die meisten halten die Klassengrößen für ungeeignet, um alle Kinder angemessen betreuen zu können, und die Lehrer für nicht ausreichend ausgebildet. Mehr als die Hälfte (55 Prozent) der Gesamtbevölkerung ist der Ansicht, dass die Schulen zu wenige Sozial- und Sonderpädagogen sowie Schulpsychologen beschäftigen.

So gut die Inklusionsstandards in der Theorie auch sind, von einer sinnvollen Umsetzung ist die Bundesrepublik noch weit entfernt. Zwar ist die Exklusion von Schulkindern mit Behinderung in den vergangenen elf Jahren insgesamt zurückgegangen. Die Bundesländer müssen allerdings Lösungen dafür finden, dass sich die Lehrkräfte damit nicht alleingelassen fühlen und fachlich und psychisch unterstützt werden. Nur so können auf lange Sicht alle Kinder von Inklusion profitieren und Deutschland die Vorgaben der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen erreichen.

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Fußnoten

  1. Kuhl, Petra u.a.: Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Schulleistungserhebungen, Wiesbaden 2015, S. 9.
  2. Knauf, Helen; Knauf, Marcus: Schulische Inklusion in Deutschland 2009-2017. Eine bildungsstatistische Analyse aus Anlass des 10. Jahrestags des Inkrafttretens der UN-Behindertenrechtskonvention am 26. März 2019, Bielefeld 2019, S. 9.
  3. Hinz, Andreas: Von der Integration zur Inklusion – terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung?, in: Zeitschrift für Heilpädagogik, (53)2002, S. 354-361.
  4. Institut für angewandte Sozialwissenschaft (Infas, Hg.): Schulische Inklusion. Untersuchung zu Einstellungen zu schulischer Inklusion und Wirkungen im Bildungsverlauf, Bonn 2019, S. 5.
  5. Hinz 2002.
  6. Saalfrank, Wolf-Thorsten; Zierer, Klaus: Inklusion, Paderborn 2017, S. 77.
  7. Knauf/Knauf 2019, S. 5.
  8. Ebd.
  9. Ebd., S. 8.
  10. Fokken, Silke: Diese Bundesländer schneiden beim gemeinsamen Lernen am besten ab, auf: spiegel.de (3.9.2018).
  11. Forsa (Hg.): Inklusion an Schulen aus Sicht der Lehrkräfte in Baden-Württemberg – Meinungen, Einstellungen und Erfahrungen, Berlin 2019, S. 4.
  12. Infas 2019, S. 11.
  13. Ebd., S. 14.

Autor:innen

Ehemalige Praktikantin bei KATAPULT.

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