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Lebensmittelkonzerne

Übergewichtig und unternährt

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In Deutschland sind die Leute entweder dünn, mittel, dick oder sehr dick. In Entwicklungsländern kommt noch ein Extrem hinzu: unterernährt. Das betrifft dort – anders als in den Industriestaaten – noch immer breite Bevölkerungsschichten. Dennoch leben inzwischen mehr fettleibige als untergewichtige Erwachsene auf der Welt. Das Paradoxe: In vielen Entwicklungsländern gibt es beides – unterernährte und stark übergewichtige Menschen.

Das Problem der Unterernährung ist alt. Das Problem der Überernährung ist für diese Länder neu und fällt zeitlich mit dem Vordringen multinationaler Großkonzerne des Ernährungssektors in die Märkte von Schwellen- und Entwicklungsländern zusammen.

Als untergewichtig gilt, wer einen Body-Mass-Index (BMI) von unter 18,5 aufweist, als stark übergewichtig – also adipös –, wer einen BMI ab 30 hat. In Kenia beispielsweise leiden rund dreißig Prozent der Bevölkerung an Unterernährung. Gleichzeitig hat sich zwischen 2000 und 2016 der Anteil der adipösen Bevölkerung mehr als verdoppelt – von 3,2 auf 7,1 Prozent.

Kenia ist aber keine Ausnahme: Auch in anderen Entwicklungs- und Schwellenländern hat die Zahl von Adipositas- und Diabetes-Erkrankungen zugenommen. In Brasilien beispielsweise ist der Anteil der adipösen Bevölkerung zwischen den Jahren 2000 und 2016 von 14,5 auf 22,1 Prozent gestiegen. Nach Einschätzung von Carlos Monteiro, Professor für Ernährung und öffentliche Gesundheit an der Universität São Paulo, ist ein Grund hierfür der Konsum von industriell gefertigter Nahrung, durch den sich die Kalorienaufnahme in Brasilien in den letzten 20 Jahren verdoppelt hat. Die Steigerungsrate des Konsums ist in der armen Bevölkerung viel höher als in der finanziell bessergestellten Schicht. Auch deshalb sind die Armen eine ganz besondere Zielgruppe.

Nestlé bringt das Kitkat direkt in die Favela

Da die Märkte in den Industrienationen zunehmend gesättigt sind und die Konzerne ärmere Bevölkerungsschichten als besondere Zielgruppen erkannt haben, drängen sie immer mehr in Schwellen- und Entwicklungsländer. Dieser Trend zeigt sich auch am Umsatz des britisch-niederländischen Unternehmens Unilever, zu dem die Marken Knorr und Langnese gehören: Setzte der Konzern 2005 noch 14,9 Milliarden Euro in West- und Mitteleuropa um, waren es 2019 nur noch 11,4 Milliarden. Im selben Zeitraum stieg der Umsatz in den Regionen Asien, Afrika und Osteuropa fast kontinuierlich von 10,3 Milliarden auf 24,1 Milliarden Euro. Der Konzern wirbt auf seiner Internetseite damit, dass mehr als die Hälfte des Umsatzes aus Schwellenländern stamme.

Um sich diese neuen Märkte zu erschließen, nutzen die Konzerne Verkaufsstrategien, die sie an die Lebensverhältnisse und Traditionen der Länder angepasst haben. Beispielsweise bieten in São Paulo rund 7.000 Nestlé-Verkäuferinnen im Rahmen des Programms Nestlé até você (»Nestlé kommt zu dir«) die Produkte ihren Freundinnen und Bekannten an Haustüren an. Die Kunden kaufen, weil sie einen sozialen Druck verspüren.

Der Tür-zu-Tür-Verkauf hat in Brasilien eine lange Tradition, um Personen in abgeschiedenen Regionen, wo es nur wenige Supermärkte gibt, zu erreichen. Während es in Deutschland oft schwierig ist, Nestlé-Produkte als solche zu erkennen, wirbt der Konzern hier offensiv mit seinem Markennamen. Er steht auf den Handkarren der Verkäuferinnen, die die Produkte ihren Kunden direkt nach Hause bringen. Die Bewohner der Favelas (Armenviertel) bekommen Pakete angeboten, die eine Mischung verschiedener Produkte wie Joghurt, Eis, Quark und Schokolade beinhalten.

Den Verkäuferinnen bietet Nestlé auf diese Weise zwar einen Arbeitsplatz, allerdings gehen die Frauen auch ein finanzielles Risiko ein. Sie erwerben ihre Produkte bei Zwischenhändlern. Da das Geschäftsmodell vorsieht, dass die Kunden bei ihnen anschreiben lassen dürfen, müssen sie unter Umständen in Vorleistung gehen. Kann ein Kunde nicht zahlen, tragen die Verkäuferinnen die Kosten. Für Nestlé hingegen ist der Gewinn sicher.

Auch in afrikanischen Ländern nutzen die Konzerne auf die jeweilige Region zugeschnittene Marketingstrategien: Da sich die arme Bevölkerung Kenias keine Vorratspackungen leisten kann, knüpfen die Konzerne an die Tradition an, nur sehr kleine Mengen zu verkaufen – gerade so viel, wie sich ein einfacher Hilfsarbeiter von seinem Tageslohn kaufen kann. Das Marketing basiert auf sogenannten Low Unit Packs: Kleinstverpackungen für wenige Cent. So können Menschen in Kenia einzeln verpackte Brühwürfel von Unilever oder Ein-Portion-Beutel der Margarine Blue Band in Shops kaufen. Sie wurde extra für den afrikanischen Markt entwickelt und muss nicht gekühlt werden.

Um die Umsätze zu erhöhen, hat Unilever in der Vergangenheit in Slums auch Seminare angeboten, die offiziell zur Kampagne »Verbesserung des Lebens« gehörten. Dabei konnten Frauen lernen, mit welchen Strategien sie die Produkte des Großkonzerns verkaufen können. Ein Satz, der potenzielle Kunden überzeugen sollte, lautete beispielsweise: »Der Tag, an dem ihr Royco-Brühwürfel benutzt, wird der Tag sein, an dem euer Ehemann euch nicht betrügt, sondern pünktlich nach Hause kommt.«

Großkonzerne und ihre Mitschuld

Die Großkonzerne sind sich ihrer Verantwortung bewusst – so soll es jedenfalls wirken. In Brasilien unterstützt Nestlé beispielsweise ein Grundschulprogramm zur Förderung von Bewegung und gesunder Ernährung. Laut Carlos Monteiro ist das aber nur eine PR-Strategie, um den Ruf des Unternehmens zu verbessern.

Auch die Verbraucherorganisation Foodwatch beklagt, dass die Konzerne unter dem Vorwand, Mangelernährung zu bekämpfen, ihre ungesunden Produkte auf den Markt bringen und hierfür ihren Einfluss auf Politik und Regierungen nutzen. Der Geschäftsführer von Foodwatch International sagt: »Nestlé, Coca-Cola und Co. präsentieren sich gerne als Wohltäter und Weltverbesserer. Doch in Wahrheit machen sie mit ihren Produkten Millionen von Menschen fett und krank und verursachen gigantische gesellschaftliche Folgekosten.« Wie stark der Zusammenhang zwischen dem Konsum von ungesunder Nahrung wie Cornflakes, Süßigkeiten und Margarine und Übergewicht ist, zeigt eine Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO). In den 13 untersuchten Ländern Mittel- und Südamerikas stieg der Pro-Kopf-Verbrauch dieser Lebensmittel zwischen den Jahren 2000 und 2013 um mehr als 25 Prozent. Die Daten zeigen einen starken Zusammenhang zwischen dem Verzehr ungesunder Lebensmittel und dem Körpergewicht der Bevölkerung: In den Ländern, in denen der Konsum dieser Produkte höher war, hatten die Leute stärker zugenommen. Dort wo der Konsum von traditionellem Essen überwog, waren die Leute schlanker.

Mexiko: Mehr Softdrinks nach Freihandelsabkommen

Laut der Studie ist die Veränderung der Ernährungsweise in diesen Ländern ein Grund für die Verbreitung von Übergewicht, verursacht durch das Vordringen multinationaler Konzerne in die Lebensmittelindustrie. Auch eine Untersuchung von David Stuckler von der Universität Cambridge und seinem Team kommt zu diesem Ergebnis: Nicht allein der gesteigerte Wohlstand dieser Länder, sondern vor allem eine starke Präsenz von Großkonzernen führe zum vermehrten Konsum ungesunder, industrialisierter Nahrung.

Als Beleg verweisen die Forscher auf die Entwicklungen in Mexiko und Venezuela in den Neunzigerjahren. In Mexiko stieg der Konsum stark gesüßter Softdrinks innerhalb von zehn Jahren stark an, nachdem multinationale Konzerne aufgrund eines Freihandelsabkommens mit den USA ihre Produkte auf dem mexikanischen Markt vertreiben konnten. In Venezuela, das kein Abkommen mit den USA geschlossen hatte, blieb der Konsum konstant, obwohl die Wirtschaft im untersuchten Zeitraum aufgrund des Ölhandels stark wuchs.

Auch Monteiro sieht einen klaren Zusammenhang zwischen der Verbreitung von Krankheiten und dem Konsum von industriell hergestellten Lebensmitteln: »Wir haben eine Epidemie. Die Menschen leiden an Übergewicht und Diabetes (...). Und klar ist, dass das mit dem steigenden Konsum dieser Produkte zusammenhängt.«

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Fußnoten

  1. Hütten, Felix: Nie waren die Menschen dicker als heute, auf: sueddeutsche.de (1.4.2016).
  2. The World Bank: Prevalence of undernourishment, auf: data.worldbank.org. – Während sich Untergewicht lediglich auf den BMI bezieht, schließt Unterernährung in den Daten der Weltbank den Zugang zu Nahrung mit ein. Andere Institutionen setzen die Begriffe gleich.
  3. World Health Organization (Hg.): Prevalence of obesity among adults, BMI ≥ 30, age-standardized Estimates by country, auf: who.int (2017).
  4. Ebd.
  5. Walther, Joachim: Das Geschäft mit der Armut. Wie Lebensmittelkonzerne neue Märkte erobern, auf: ZDF/Phoenix, Erstausstrahlung 15.10.2014.
  6. Ebd.
  7. Statista (Hg.): Umsatz von Unilever weltweit nach Regionen in den Jahren 2005 bis 2019, auf: statista.com (6.2.2020). – Die Umsätze stammen aus den Bereichen Lebensmittel, Körperpflege und Reinigungsmittel.
  8. Walther 2014.
  9. Foodwatch (Hg.): Foodwatch gibt Nestlé & Co. Mitschuld an Ausbreitung von Fettleibigkeit in Entwicklungsländern, auf foodwatch.org (22.8.2018).
  10. Pan American Health Organization; World Health Organization (Hg.): Ultra-processed food and drink products in Latin America: Trends, impact on obesity, policy implications, Washington D.C. 2015, S. 16.
  11. Ebd., S. 42.
  12. Stuckler, David et al.: Manufacturing Epidemics: The Role of Global Producers in Increased Consumption of Unhealthy Commodities Including Processed Foods, Alcohol, and Tobacco, in: Plos Medicine (9)2012, H. 6, S. 1-8, hier: S. 6.
  13. Spiegel (Hg.): Nestlé, Kraft und Co. schaden Ernährung in Entwicklungsländern, auf: spiegel.de (27.6.2012).
  14. Walther 2014.

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