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Politische Theorie: Rechtspopulismus

Moralische Entrüstung greift zu kurz

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In nahezu allen Staaten West- und Nordeuropas, zunehmend auch Osteuropas, können seit gut zwei Jahrzehnten rechtspopulistische Parteien Erfolge feiern. In Südeuropa haben zudem als linkspopulistisch bezeichnete Parteien großen Zulauf, was in Griechenland sogar zur Regierungsübernahme geführt hat. In Ungarn und Polen haben rechtspopulistische Parteien die Regierungsmacht inne. Die »etablierten« Parteien vermögen es immer weniger, den populistischen Herausforderern Paroli zu bieten. Die jüngsten Präsidentschaftswahlen in Österreich und auch der Brexit sind nur die prominentesten Anzeichen populistischer Erhebungen. Sowohl in Frankreich als auch in Italien sind populistische Machtübernahmen in den Bereich des Möglichen gerückt. Und in Deutschland gibt die AfD immer stärker den Takt vor.

Kurzum, in den etablierten Demokratien West- und Nordeuropas, aber auch in vielen der neuen Demokratien Osteuropas, besteht derzeit ein »populistischer Moment«. Unter einem populistischen Moment lässt sich im Anschluss an den US-amerikanischen Historiker Lawrence Goodwyn eine gesellschaftliche Konstellation verstehen, in der als Folge eines beschleunigten sozialen Wandels eine tiefe Kluft zwischen den Eliten und »Modernisierungsgewinnern« auf der einen und dem »einfachen Volk« auf der anderen Seite besteht. Diese Kluft betrifft die grundlegenden Werte, aber auch die Art und Weise, wie der Welt begegnet wird, welche Lebenschancen gesehen werden, was von der Zukunft erwartet wird. Begreifen Eliten und »Modernisierungsgewinner« die neuen Zeiten im Sinne eines beschleunigten sozialen Wandels (Stichworte wären Pluralisierung, Individualisierung, Flexibilisierung) als Herausforderung und Chance, so nimmt ein Großteil der Bevölkerung diese als eine Bedrohung wahr.

Ohne dass dies hier näher ausgeführt wird, lässt sich der Globalisierungsprozess als Auslöser eines solchen populistischen Momentes begreifen. Doch dies ist nur die notwendige Bedingung. Hinzu kommt das Gefühl vieler Menschen, von den politischen oder auch wirtschaftlichen Eliten nicht mehr respektiert zu werden. Dies drückt sich etwa in Formulierungen wie »die da oben« oder »politische Klasse« aus. Gestört ist damit das, was im politikwissenschaftlichen Jargon als Responsivität bezeichnet wird. Die politischen Eliten reagieren nur noch unzureichend auf die Bedürfnisse und Interessen ihrer Wähler. Doch warum artikuliert sich diese Entfremdung gegenwärtig in Europa und nun auch in Deutschland vornehmlich in der Wahl rechtspopulistischer Parteien?

Die neue Mitte ist nur das obere Viertel

Eine der Antworten liegt in der durch die Privatisierungen der 1980er-Jahre veränderten Medienlandschaft, die populistische Politikstile befördert. Auch die neuen Medien und ihre eigentümlichen Resonanzräume mögen zu einer gewissen Enthemmung beigetragen haben. Doch ist dies nur die notwendige, nicht die hinreichende Erklärung. Hinzu treten die Erosion klassischer Konfliktlinien (»cleavages«) und die Entstehung von Kartellparteien, insbesondere, aber nicht ausschließlich in Konsensdemokratien. Auch der Vertrauensverlust in ehemalige Volksparteien infolge von Korruptionsskandalen hat rechtspopulistischen Parteien das Feld bereitet. Ein ganz wesentlicher Aspekt ist aber der Wandel sozialdemokratischer Parteien. Denn einerseits können wir bei vielen sozialdemokratischen Parteien in West- und Nordeuropa zum Teil dramatische Wahlverluste beobachten, andererseits einen rasanten Aufstieg rechtspopulistischer Parteien, der in den vergangenen Monaten noch an Fahrt zugenommen hat. Und zwischen beiden Entwicklungen, so meine These, besteht ein Zusammenhang.

Das beste Buch über den Wandel der Sozialdemokratie, den man mit zeitlichen Versetzungen in nahezu allen westlichen Demokratien beobachten konnte, stammt von Richard Rorty, nämlich »Stolz auf unser Land«. Rortys Kernthese ist, dass die Hinwendung der US-amerikanischen Demokraten zu den Forderungen der Neuen sozialen Bewegungen und damit auch zu neuen Wählerschichten viele ehemalige Wähler abgeschreckt hat. In den USA hat sich entsprechend bereits während der 1990er-Jahre jene neue Konfliktlinie zwischen liberalen Kosmopoliten und Traditionalisten entwickelt und in den vergangenen Jahren zunehmend verfestigt. Diese macht sich nun auch in Westeuropa bemerkbar.

Rorty verweist nicht nur darauf, dass der »cultural turn« (Kulturelle Wende) der US-amerikanischen Linken mit der Vernachlässigung der Frage der Umverteilung, konkret mit Steuersenkungen, einhergehe, sondern dass dies auch der Interessenlage der neuen Wähler der Demokraten entspreche, nämlich jene, die der »neuen Mitte« zugeordnet werden. Dort findet eine Verschmelzung eines »wirtschaftlichen Kosmopolitismus« mit einem »neuerstandene[n] kulturelle[n] Kosmopolitismus« statt, die freilich auf das »reichste Viertel der Amerikaner« beschränkt bleibe. Die restlichen drei Viertel, so Rorty weiter, »sollen sich über ethnische und religiöse Fragen streiten und über Sexualmoral diskutieren«. Der Populismus stellt dieser Deutung zufolge einen ins kulturelle »verschobenen Klassenkampf« dar, wie es Claus Leggewie jüngst ausgedrückt hat.

Das Ineinandergreifen von wirtschaftlichem und kulturellem Liberalismus innerhalb sozialdemokratischer Parteien hat eine kulturelle und zunehmend auch parteipolitische Lücke entstehen lassen, die in den USA von der Tea-Party-Bewegung beziehungsweise jetzt von Donald Trump besetzt und nun auch in West- und Nordeuropa vom Rechtspopulismus ausgefüllt wird. Es gibt in den USA und in Europa mithin eine Koalition aus ökonomischem und kulturellem Liberalismus. Und es ist diese Koalition, gegen die sich der Rechtspopulismus wendet.

Zum besseren Verständnis des Zusammenhangs zwischen den beiden Facetten des Liberalismus einerseits und dem Wachsen des Rechtspopulismus andererseits lohnt die Lektüre von »Das Reich des kleineren Übels« des französischen Sozialphilosophen Jean-Claude Michéa. Seine zentrale These lautet, dass sich der in den Augen vieler »schlechte« Marktliberalismus nicht von dem »guten« politischen Liberalismus trennen lasse. Beide seien vielmehr »zwei Parallelformen des Liberalismus«, die sich nicht nur in der Praxis ergänzten, sondern auch theoretisch einander bedürften. Die theoretische Gemeinsamkeit bestehe darin, dass sich beide Varianten von der Einbindung in übergeordnete Wertmuster distanzierten und demgegenüber die Freiheit des Individuums betonten: die Freiheit des Unternehmers und die Freiheit der Lebensstile; das eine könne man nicht ohne das andere haben.

Der Aufstand der Anständigen

Wenn man bedenkt, dass religiöse Vielfalt, gleichgeschlechtliche Lebensformen oder auch eine stärkere Repräsentation von Frauen im öffentlichen Leben vor allem in kapitalistischen Gesellschaften zu beobachten sind, so besitzt diese These durchaus Plausibilität. Ein besonders schönes Beispiel für das Zusammenwirken von ökonomischem und kulturellem Liberalismus ist der Boykott von North Carolina durch Firmen wie Facebook, Apple, Google, American Airlines, der Bank of America und auch der Deutschen Bank. Was war geschehen? Nachdem sich die Stadt Charlotte gegen sexuelle Diskriminierung auf öffentlichen Toiletten ausgesprochen hatte, verabschiedete das republikanisch dominierte Statehouse von North Carolina ein Gesetz, wonach man nur jene Toilette aufsuchen dürfe, die dem nach der Geburt zugewiesenen Geschlecht entspreche.

Die Provokation von Michéa besteht nun darin, dass er die Exzesse des Marktes und den zur Schau getragenen postmodernen Hedonismus, wie er sich etwa im Luxuskonsum der oberen Mittelschichten, aber auch in der zunehmenden sexuellen Freizügigkeit in den Medien zeigt, für gleichermaßen »unanständig« hält. Wir haben es ihm zufolge in den gegenwärtigen Gesellschaften des Westens mit einer doppelten Enthemmung zu tun, die von den beiden liberalen Strömungen vorangetrieben werde. Entsprechend begreift Michéa die zu beobachtende Abwendung immer größerer Bevölkerungsgruppen von den liberalen Deutungseliten als nicht nur nachvollziehbar, sondern vielmehr als einen Aufstand »der Anständigen«.

Diese Abwendung von den liberalen Eliten zeige sich nun auch parteipolitisch. Bei den etablierten Parteien bestehe lediglich - Michéa hat dabei Frankreich im Jahr 2007 im Blick, denn inzwischen haben sich ja auch die französischen Sozialisten der neoliberalen Reformpolitik verschrieben - die Wahl zwischen konservativen Kräften, die für Wirtschaftsliberalismus und einen traditionellen Wertekanon stehen, und jenen Parteien, die zwar eine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik propagieren, zugleich aber eine immer weitergehende kulturelle Liberalisierung betreiben wollen. Wenig attraktiv sei dieses Angebot aber für jene Wähler, die Michéa der »Arbeiterklasse« zuordnet.

Nun kann man sicherlich lange darüber diskutieren, ob es noch zeitgemäß ist, von einer Arbeiterklasse zu sprechen. Michéa hat vor allem jene Menschen im Sinn, die hierzulande als Modernisierungsverlierer bezeichnet werden: Menschen, deren Arbeitsplätze nicht notwendig akut bedroht, aber zumindest subjektiv unsicher geworden sind und deren Lebenswelten sich in den vergangenen Jahren etwa durch Einwanderungsprozesse oder durch Rauchverbote stark gewandelt haben. Kurzum, es sind jene Milieus, die sich von den etablierten Parteien nicht mehr repräsentiert sehen und sich zunehmend dem Front National zuwenden.

Moralische Abwehr gegen Rechtspopulismus ist kontraproduktiv

Daher denke ich, dass man es sich zu einfach macht, die Rechtspopulisten als Rattenfänger zu denunzieren, die ihre Anhänger »mit einfachen Parolen« verführen würden. In dem äußerst lesenswerten Buch von Didier Eribon, »Rückkehr nach Reims«, findet sich demgegenüber die Auffassung, dass die Wahl von Rechtspopulisten - hier des Front National - es den unteren Schichten ermögliche, ihre Ohnmacht zu überwinden. Eribon schreibt, »dass man die Zustimmung zum Front National zumindest teilweise als eine Art politische Notwehr der unteren Schichten interpretieren muss«. Anders ausgedrückt: Durch die Wahl von Rechtspopulisten kehren Menschen, die sich von den etablierten Parteien nicht repräsentiert sehen, in den politischen Raum zurück.

Wie soll man darauf reagieren? Eine gut gemeinte Strategie, die dem Rechtspopulismus lediglich mit moralischer Abwehr begegnet, läuft Gefahr, ihn zu verstärken, wird auf diese Weise doch dessen Bild von den »abgehobenen Eliten« bekräftigt. Stattdessen möchte ich abschließend dafür plädieren, auch bei der Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus die soziale Frage wieder stärker zu thematisieren. Es wäre freilich falsch, den Rechtspopulismus einzig auf soziale Abstiegsängste zurückzuführen. Und die Verbesserung von Lebensumständen führt nicht automatisch zu mehr Toleranz, Freiheit und Demokratie. Aber ohne die Aussicht auf anständige Lebensumstände werden Toleranz, Freiheit und Demokratie zu unglaubwürdigen Schlagworten.

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Autor:innen

Technische Universität Darmstadt

Forschungsschwerpunkte
Demokratietheorie
Amerikanischer Pragmatismus
Populismus

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