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Ideengeschichte

Auf dem Weg zum postdemokratischen Kapitalismus

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Auf den ersten Blick haben Demokratie und Kapitalismus wenig miteinander gemein. Während »Demokrat« einen begehrten Ehrentitel darstellt, klingt »Kapitalist« wie ein Vorwurf. Und tatsächlich gibt es schwerwiegende Unterschiede zwischen einem demokratischen Gemeinwesen und einer kapitalistischen Ökonomie. Eine Demokratie, die ihren Namen verdient, lebt von Bürgerfreundschaft und politischer Gleichheit. In ihr begegnen sich die Bürgerinnen und Bürger, anders als im Kapitalismus, solidarisch und als Gleiche.

Der kapitalistische Markt macht zwar im Prinzip auch keinen Unterschied zwischen den Marktteilnehmern, er setzt aber Zahlungskraft voraus. Wählen darf, wer Bürger ist; kaufen darf nur, wer auch zahlen kann. Und wer einmal einen kapitalistischen Betrieb von innen gesehen hat, der weiß: Hier kommt die Asymmetrie des Verhältnisses von Kapital und Arbeit voll zur Geltung. Im Betrieb begegnen sich die Menschen als Ungleiche.

Demokratie und Kapitalismus in der politischen Ökonomie von Smith, Marx und Schumpeter

Auch die Klassiker der politischen Ökonomie hatten an der Vereinbarkeit von Kapitalismus und Demokratie ihre Zweifel – dies allerdings aus anderen Gründen. Der schottische Philosoph und Aufklärer Adam Smith etwa pries das System der natürlichen Freiheit des Marktes unter anderem deshalb, weil es von anonymen, unparteiischen Gesetzen beherrscht werde. Seine Überlegung: Wenn die Gesetze des Marktes herrschen, dann herrscht niemand mehr. An die Stelle der sichtbaren Hand der Herrschenden, die ihre Wohl- und Untaten höchst willkürlich verteile, sollte die unsichtbare Hand des Marktes treten, da sie leistungsgerecht und wohlstandsmehrend wirke. Diese utopische Theorie war gegen die Herrschaft der Aristokraten und Privilegierten gerichtet. In Smiths Utopie herrschaftsfreier Marktvergesellschaftung war allerdings auch für die Herrschaft des Volkes kein Platz.

Anders lagen die Dinge für Karl Marx und Friedrich Engels. Dem Fetischcharakter der Ware, der die klare Sicht auf die Herrschaft des Kapitals verneble, setzten sie, zumindest zeitweise, die Demokratie entgegen. Dank ihres Prinzips staatsbürgerlicher Gleichheit und des in ihr unvermeidbaren öffentlichen Streits begünstige sie, das »Regime der Unruhe«, den Kampf gegen das Kapital. Die bürgerliche Demokratie weise gleichwohl einen Mangel auf. Sie mache die Bürger nur in der Wahlkabine und in der Öffentlichkeit gleich, die sozioökonomische Ungleichheit hingegen taste sie nicht an. Ein Makel, den die sozialistische Zukunftsgesellschaft überwinden sollte.

Die Demokratie ist gewiss nicht im Kielwasser des Kapitalismus entstanden. Aber viele Institutionen und Ideen, die heute mit der Demokratie in Verbindung gebracht werden, sind indirekt mit dem Kapitalismus verknüpft

In der Rückschau zeigt sich jedenfalls, dass zwischen Demokratie und Kapitalismus eine Verbindung besteht. Die Demokratie ist gewiss nicht »im Kielwasser des Kapitalismus« entstanden, wie der österreichische Ökonom und Politiker Joseph Schumpeter meinte. Aber viele Institutionen und Ideen, die heute mit der Demokratie in Verbindung gebracht werden, sind zumindest indirekt mit dem Kapitalismus verknüpft. Hierzu zählen die liberalen Menschenrechte, vor allem das Recht auf Privateigentum, der Individualismus, die Rechtsgleichheit und die Idee der negativen Freiheit – der Freiheit, frei wählen zu können (»free to choose« – Milton Friedman). Manch einem mag es heute noch so erscheinen, dass es genau das ist, was Demokratie und Kapitalismus teilen: Wahlfreiheit.

Doch das ist nur die eine Seite des Verhältnisses von Kapitalismus und Demokratie. Die andere Seite ist, dass die real existierenden Demokratien kulturell auf Bürgerfreundschaft und Gemeinsinn fußen. Ökonomisch sind sie gemischte Wirtschaftssysteme. Sie haben, neben dem privatwirtschaftlichen, einen großen öffentlichen Sektor und sie verfügen über hohe Staatsausgaben. Sie ziehen der Verfügungsgewalt der Privateigentümer sowie der Wahlfreiheit der Marktteilnehmer Grenzen. Wie der Soziologe Max Weber und andere in seiner Nachfolge gezeigt haben, gehören Kapitalismus, Bürokratie und Staat untrennbar zusammen. Märkte werden politisch geschaffen und reguliert, andernfalls wären sie nicht funktionsfähig.

In der Demokratie ist das nicht anders. Auch in ihr wird politisch entschieden, was wie zur Ware werden darf und was nicht. Die Kerninstitutionen des Kapitalismus, die Ware Arbeitskraft und die profitorientierte Privatwirtschaft, wurden allerdings bisher durch keine Demokratie so weit angetastet, dass dies dem Kapitalismus den Garaus gemacht hätte. Die modernen Demokratien sind bis heute kapitalistisch geblieben.

Die »goldenen drei Jahrzehnte« nach dem Zweiten Weltkrieg

In den Augen vieler Beobachter hat das in den »goldenen drei Jahrzehnten« nach dem Zweiten Weltkrieg während der Ehe zwischen Massendemokratie und organisiertem Kapitalismus, im »demokratischen Kapitalismus« (Wolfgang Streeck), auch gut funktioniert. Eine Zweckehe zwar, aber eine glückliche – so der Tenor. Diese Einschätzung mag nostalgisch anmuten. Zumal dann, wenn man bedenkt, dass diese Ehe auch Kinder hervorbrachte, die sich zu Monstern entwickelten.

Kritische Politikwissenschaftler der 70er und 80er Jahre meinten, der demokratische Kapitalismus sichere sich die Loyalität der Massen durch die folgenlose Beteiligung der Bürger an Wahlen, die militärische Eroberung von Märkten und die wohlfahrtsstaatliche Verteilung von Freizeit und Geld. Letzteres funktioniere indes nur, wenn die Schlote der Industrie rauchen und ihre Produkte, nebst ökologischen Folgeschäden, in alle Welt exportiert werden. Die Kritik lautete mithin: Der militärisch-industrielle Komplex in der Massendemokratie produziere Butter und Kanonen.

Gleichwohl ist heute unstrittig, dass es in dieser Zeit gelang, dem kapitalistischen Profitstreben Grenzen zu setzen – und so die Ungleichheit zwischen denen, die arbeiten müssen, und denen, die arbeiten lassen, abzumildern. Das galt zumindest für diejenigen, die in den Genuss demokratischer Bürgerrechte gelangten.

Der Rückblick auf die Vergangenheit des demokratischen Kapitalismus ist momentan so rosarot getönt, weil der Ausblick auf die Zukunft so düster ist

Abschied vom »demokratischen Kapitalismus«?

Der Rückblick auf die Vergangenheit des »demokratischen Kapitalismus« ist momentan so rosarot getönt, weil der Ausblick auf die Zukunft so düster ist. Den »Traum immerwährender Prosperität« (Burkart Lutz) träumen in den westlichen Demokratien immer weniger Menschen. Die Zukunftserwartung hat sich eingetrübt. Vielerorts geht es um die Bewahrung des Erreichten oder um die Wiederkehr alter Größe. Das ist nicht ganz unbegründet, denn es wird deutlich, dass die alte Friedensformel des »demokratischen Kapitalismus« samt Klassenkompromiss, Normalarbeitsverhältnis und Wohlfahrtsstaat unter Druck gerät. Dies hat jüngst der Soziologe Oliver Nachtwey gezeigt.

Eine Verbesserung der Lebensverhältnisse erwarten nicht wenige nur noch von der Dynamik der »schöpferischen Zerstörung« (Schumpeter) im Zuge von Innovationen kapitalistischer Firmen – und nicht von demokratischen Reformen. Ursächlich für diesen Geisteswandel war auch der intellektuelle Angriff des österreichischen Ökonomen und Sozialphilosophen Friedrich August von Hayek sowie der neoliberalen Chicago Boys auf die Prämissen von Demokratie und Wohlfahrtsstaat. Ihre Botschaft lautete: Das wohlfahrtsstaatliche Prinzip der sozialen Gerechtigkeit sei nur ein Vorwand, Steuergelder zu verschwenden, und eine planende Intervention in das Marktgeschehen sorge stets für Unheil. Die gesellschaftliche Komplexität sei nicht mit demokratischen Mehrheitsentscheiden, sondern allein durch den »Wettbewerb als Entdeckungsverfahren« (Hayek) in einer liberalen Markgesellschaft zu bewältigen. Als eine Ideologie ist diese Utopie der freien Marktgesellschaft einflussreich. Sie hat das Vertrauen in die Gestaltungskraft demokratischer Politik erschüttert.

Sind wir auf dem Weg in den postdemokratischen Kapitalismus? Die Anzeichen hierfür mehren sich. Politikwissenschaftler diagnostizieren eine zunehmende Ungleichheit der politischen Teilhabe und Repräsentation, die sich vor allem zulasten der Armen auswirkt. Sie lässt das demokratische Gleichheitsversprechen unglaubwürdig erscheinen. Hinzu kommen das Errichten einer neoliberalen Wirtschaftsverfassung in der Europäischen Union, die unlängst von dem deutschen Rechtswissenschaftler Dieter Grimm beschrieben worden ist, und die Verlagerung von politischen Entscheidungszentren in Arenen, die sich jenseits der nationalen demokratischen Öffentlichkeiten befinden.

Die Demokratien haben überdies durch ihre Staatsverschuldung und eine Entgrenzungspolitik das Kapital mit einem gehörigen Maß an Drohpotential ausgestattet. Im Zuge der weltwirtschaftlichen Schwerpunktverlagerung wächst zudem die Bedeutung undemokratischer, illiberaler Kapitalismen in China und anderswo. Die aufsteigenden BRICS-Staaten, so der Politikwissenschaftler Andreas Nölke, weisen einen Wirtschaftsstil auf, der vom liberalen Paradigma des »Washington Consensus« abweicht. Familiäre Netzwerke, autoritär organisierte Arbeitsbeziehungen und die Verschmelzung von Staat und Kapital gehen hier eine Verbindung ein, die Umrisse eines neuartigen, postliberalen Kapitalismus erkennen lassen.

Globalisierung und Postdemokratie haben zu einem Missverhältnis zwischen dem entgrenzten Kapitalismus und der notwendig begrenzten Demokratie geführt. Während die politischen Eliten ihre Anpassungsfähigkeit im Zeichen von ‚Wettbewerbsfähigkeit‘ demonstrieren, wächst unter den Bürgern die Unzufriedenheit

Globalisierung und Postdemokratie, so können die vielfältigen Krisendiagnosen der letzten Jahre über den Zustand der Demokratie zusammengefasst werden, haben zu einem Missverhältnis zwischen dem entgrenzten Kapitalismus und der notwendig begrenzten Demokratie geführt. Das bleibt nicht ohne Folgen. Während die politischen Eliten ihre Anpassungsfähigkeit im Zeichen von »Wettbewerbsfähigkeit« demonstrieren, wächst unter den Bürgern die Unzufriedenheit, die politischen Protest zur Folge hat.

Der Populismus steht für Begrenzung

Auf der einen Seite stehen die transnationalen Protestbewegungen. Sie wenden sich gegen einen globalen Finanzkapitalismus, den sie als ungerechtes Regime im Dienste der oberen Zehntausend, der happy few, wahrnehmen. Auf der anderen Seite steht der Populismus. Noch dominiert im Chor der Populisten die identitätspolitische Melodie. Aber der Brexit, Donald Trumps Protektionismus und der Linksschwenk des Front National lassen vermuten, dass die ökonomischen Motive in Zukunft stärkere Bedeutung bekommen werden – vor allem dann, wenn es den Demokratien nicht gelingt, dem kapitalistischen Profitstreben engere Grenzen zu ziehen und den Aufstieg des postdemokratischen Kapitalismus zu stoppen.

Der Populismus bringt alte Motive der nationalstaatlichen Demokratie propagandistisch in Stellung – Volk, Identität, kollektive Selbstbestimmung – und er macht Front gegen »Fremde« und politische Eliten. Den Eliten wirft er nicht zuletzt vor, die Schleusen der Nationalstaaten geöffnet zu haben. Der Populismus ist damit die einzige politische Kraft, die vor allem für Begrenzung steht. Das ist misslich, denn die Demokratie ist selbst eine politische Ordnung, die von Grenzen lebt. Die Menschenrechte sind universell, aber die Bürgerfreundschaft lässt sich nicht verallgemeinern.

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Fußnoten

  1. Nachtwey, Oliver: Die Abstiegsgesellschaft, Berlin, 2016.
  2. Grimm, Dieter: Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie, München, 2016.
  3. Das Kürzel »BRICS« steht für Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika.

Autor:innen

TU Darmstadt

Forschungsschwerpunkte
Populismus und Demokratie
Theorien der Politik
Geschichte des politischen Denkens

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