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Soziale Medien

Die Befreiung der Geschlechter im Netz

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»Du erschaffst Dir ein Online-Alter-Ego, und es ist bezaubernd und sexy und perfekt und all das, von dem Du glaubst, dass es ein Junge [an einem Mädchen] wollen würde« - so beschreibt die Journalistin Rhiannon Lucy Cosslett, wie junge Mädchen sich routinemäßig auf ihren Instagram-Fotos mit Hilfe von Apps selbst verschlanken und verschönern. Bitte was? Ja, denn »[e]s wäre viel ungewöhnlicher für sie, ein gänzlich ungeschöntes Foto bei Instagram hochzuladen«, ergänzt Fotografin Isabelle Whitley.

Willkommen in der Realität des 21. Jahrhunderts, der Glanzzeit der Sozialen Medien wie Facebook, Tinder und Instagram, die der Gesellschaft neue technische Möglichkeiten bieten, ein körperliches Ich-Ideal zu gestalten.

Die Utopie, das Internet würde es ermöglichen, das eigene Sein frei von sozialen Normen zu entwerfen, ist Schall und Rauch

Hatte nicht die berühmte US-amerikanische Soziologin Sherry Turkle noch 1998 verkündet: »Virtuelle Räume geben uns die nötige Sicherheit, um unsere Unzulänglichkeiten zu enthüllen, so daß wir beginnen können, uns als diejenigen anzunehmen, die wir nun einmal sind«? Damit war die Utopie verbunden, das Internet würde einen freien, da virtuellen Raum darstellen, der es ermöglicht, mit mehreren (Geschlechts-)Identitäten zu experimentieren und das eigene Sein frei von sozialen Normen zu entwerfen.

Alles Schall und Rauch, wenn man sich die Fotos Bier trinkender Jünglinge auf Facebook oder die Profilbilder stark geschminkter, tief dekolletierter Frauen mit Duckface bei Instagram anschaut.

Die Sozialen Medien verstärkten oftmals die klassisch-binären Geschlechtervorstellungen, meint Tanja Carstensen, Soziologin und Genderforscherin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. »Dabei werden Geschlechter-stereotype teilweise extrem zugespitzt.« Eigentlich logisch, denn die Sozialen Medien sind nichts weiter als alltägliche Kommunikationsmittel im Zeitalter der interaktiv-partizipativen Internet-anwendungen.

Und in unserem Alltag sind neben emanzipatorischen Bestrebungen in vielen Bereichen traditionelle, patriarchalische Strukturen (leider) noch präsent. »Technik ist immer ein Spiegel der Gesellschaft. Mit jeder technischen Neuerung werden gesellschaftliche Machtverhältnisse und Geschlechterbeziehungen aber auch neu verhandelt«, sagt Carstensen.

Inwiefern werden Geschlechterstereotype in den Sozialen Medien reproduziert? Auf den ersten Blick unterscheiden sich beide Geschlechter gar nicht so sehr, was ihre Nutzung des »Social Web« betrifft. So sind laut Studie von Pew Re-search 73 Prozent der männlichen und 80 Prozent der weiblichen InternetnutzerInnen in Sozialen Netzwerken aktiv. 76 Prozent der Männer und 70 Prozent der Frauen in Deutschland nutzen Wikipedia.

Erste Klischees werden beim Betrachten der Nutzungsverteilung der einzelnen Sozialen Medien offensichtlich: Mit 66 Prozent nutzen deutlich mehr Männer als Frauen (50 Prozent) in Deutschland Videoportale. In den USA sind 68 Prozent der Instagram- und 84 Prozent der Pinterest-NutzerInnen Frauen, während im selben Kulturkreis das berufliche Netzwerk LinkedIn etwas mehr von Männern genutzt wird und auch Google+ mit einem Anteil von 70 Prozent deutlich von Männern dominiert ist.

Weitere Geschlechterstereotype treten auf, wenn man sich anschaut, warum das Social Web genutzt wird: So verwenden mit 27 Prozent mehr Männer als Frauen (22 Prozent) sie aus beruflichen Gründen. Auch beim Suchen nach PartnerInnen sind die Männer mit 13 Prozent online aktiver unterwegs als die Frauen mit sieben Prozent.

Diese wiederum stillen mittels Sozialer Netzwerke eher ihr Kommunikationsbedürfnis, halten mit Freunden und Familie Kontakt oder suchen nach Unterhaltung in Sozialen Netzwerken und Blogs. Vor allem auf Facebook sind mit 53 Prozent erkennbar mehr Frauen online.

Die traditionelle Rollenverteilung, dass Männer eher beruflich aktiv sind und in der Öffentlichkeit stehen, während Frauen vermehrt im Privaten und im Sozialen auftreten, setzt sich in den Sozialen Medien fort: Beispielsweise sind bei der Online-enzyklopädie Wikipedia nur sehr wenige Frauen als AutorInnen tätig. Solide Statistiken sind schwer auffindbar: Teilweise wird von acht Prozent gesprochen, laut Wikimedia sind es zehn bis 15 Prozent. Demgegenüber ist die Mehrheit der Weblog-AutorInnen weiblich, was als Fortsetzung der weiblich konnotierten Kulturpraxis des Tagebuchschreibens im digitalen Medium interpretiert werden kann. In der Liste der meistgelesenen Blogs sind Frauen und Mädchen aber kaum vertreten.

Jungen stellen sich auf Facebook eher über Trainingsfotos dar, Mädchen eher in räkelnden Posen

Ein österreichisches Forschungsprojekt zur Selbstdarstellung von Teenagern auf Facebook kam zu dem Ergebnis, dass Jungen sich in ihrer Selbstpräsentation eher über körperliche Leistung und Stärke (wie Trainingsfotos) und Mädchen sich eher über ein attraktives Äußeres definieren (wie räkelnde Posen). Auch dahinter steckt das traditionelle Geschlechterbild: Der Mann ist stark und körperlich aktiv, während die Frau - selbst passiv - als Objekt der Begierde verführt.

Carstensen weist darauf hin, dass es eher die Männer seien, die in Onlinekommentaren aggressiv reagierten oder Hate Speech verbreiteten. »Tatsächlich ist es so, dass die Kommunikation online härter ist, dass Hass und Kommentare viel schärfer formuliert werden und das eher von Männern«, bemerkt die Gender-Forscherin. Zum Teil werden klassische Stereotypisierungen und Diskriminierungen auch durch die technische Vorstrukturierung der Social Websites, die sich durch Kommentarfunktionen, die anonym genutzt werden können, und erfragte Kategorien wie Alter, Geschlecht und Fotos auszeichnen, begünstigt, meint Carstensen.

Soziale Netzwerke wie StudiVZ oder Facebook forderten lange Zeit in ihren Anmeldeformularen eine eindeutige Zuordnung als »männlich« oder »weiblich«. Mittlerweile hat sich zumindest Facebook die Kritik zu Herzen genommen, sodass UserInnen in Deutschland neben »Frau« und »Mann« nun die Wahl zwischen etwa 60 verschiedenen Geschlechtsidentitäten haben, darunter »bigender«, »androgyn« oder »geschlechtslos«. Übrigens konnte ein weiterer Stereotyp beim Schreiben dieses Artikels reproduziert werden: In diesem Text wurden mehr als doppelt so viele Frauen wie Männer zitiert - es scheinen also immer noch vermehrt die Frauen zu sein, die sich für Gleichberechtigung und Befreiung der Geschlechter einsetzen.

Den Nutzungspraktiken nach zu urteilen, scheint es im Web 2.0, auch noch fast drei Jahrhunderte nach Entstehen des Feminismus, eher um ein »doing gender« als um ein »undoing gender« zu gehen. Denn »Geschlecht ist nichts, was wir sind oder haben, sondern was wir tun«, erklärt die für den Feminismus besonders einflussreiche Philosophin Judith Butler. Sie geht davon aus, dass erst die geläufigen Formen von Sprache, Wissen und Diskursen die Bedeutung von Vorstellungen wie dem biologischem Geschlecht, Gender und Kultur herstellen: Im Alltagshandeln - online und offline -, im »doing gender«, werden die Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit konstruiert und reproduziert.

Geschlecht ist nichts, was wir sind oder haben, sondern was wir tun

An das sozial konstruierte Geschlecht sind immer bestimmte Erwartungen gekoppelt. Da es aber keine biologisch festgelegte Geschlechtsidentität gibt, werden auch sozial konstruierte Geschlechterrollen hinfällig und können (müssen! um der lieben Freiheit Willen) aufgelöst werden. »Aber noch sind wir tief in den Geschlechterrollen drin. Denn sie wirken stabilisierend, geben dem Individuum Sicherheit und Anerkennung«, erklärt Carstensen. In unserem Alltag sind Stereotype häufig noch an der Tagesordnung: »Ob das Sexismus in Firmen ist, die klassischen Männer- und Frauenberufe, die unterschiedlichen Karrierewege oder die Bezahlung sind - an jeder Ecke begegnen wir den typischen Rollenbildern«, so Carstensen.

Allerdings, und das ist die gute Nachricht, ist die Welt wie immer komplexer und vielfältiger: Nicht alle Männer und Frauen handeln nach traditionellen Mustern. Die einzelnen Nutzungspraktiken sind viel differenzierter. Durch die Möglichkeit, online mit der Öffentlichkeit zu interagieren, bieten die Sozialen Medien auch genügend Potential für ein »undoing gender« und die Auflösung klassischer Geschlechterstereotype.

»Die Sozialen Medien eröffnen Räume und Handlungsmöglichkeiten für Menschen, die sich weder als Mann noch als Frau identifizieren; ermöglichen Interessenfindung, Gruppenzugehörigkeit und nichtstereotype Identitätskonstruktion«, erklärt Carstensen. So finden sich auch subversive, ironische und unkonventionelle Nutzungsweisen, in denen beispielsweise bei jedem Einloggen in das Soziale Netzwerk die Angabe zum Geschlecht geändert wird, oder Fotos verwendet werden, die Frauen mit Bärten zeigen.

Weblogs wie homophobiephobie.wordpress.com ermöglichen neue, geschlechternormbefreite Politik, indem sie nichtheterosexuelle, virtuelle Räume für Lesben und Schwule schaffen, in denen diese sich austauschen und vernetzen können. Durch die technische Struktur des Web 2.0 werden freie Meinungsäußerung, Vernetzen, gegenseitiges Kommentieren, Verlinken und Gruppengründung ermöglicht, um über und gegen Sexismus und die herkömmlichen Geschlechterdualismen zu diskutieren und zu mobilisieren.

Dank der Sozialen Medien kann direkt gegen die Diskriminierungskampagnen der AfD gegen Homosexuelle oder den Sexismus von FPÖ-Präsidentschaftskandidat Hofer protestiert und darüber aufgeklärt werden

Die Sozialen Medien haben viel zum Erstarken der feministischen Bewegung beigetragen, sodass ein aktiver, selbst organisierter Netzfeminismus in Foren wie #aufschrei entstehen konnte. Weitere Beispiele sind der Mädchenblog, Mädchenmannschaft, der Genderblog, Aus Liebe zur Freiheit und netzfeminismus.org. Dank der Sozialen Medien kann direkt gegen die Diskriminierungskampagnen der AfD gegen Homosexuelle oder den Sexismus von FPÖ-Präsidentschaftskandidat Hofer protestiert und darüber aufgeklärt werden. Die Website hatr.org veröffentlicht sexistische, rassistische, homo- und transphobe Kommentare, um sie auf diese Weise zu entsorgen.

Ein Fortschritt für die Menschheit, die teilweise immer noch über das Mysterium des weiblichen Orgasmus spekuliert, ist die Seite omgyes.com. Dort erzählen Frauen detailliert, wie sie sich selbst befriedigen, mit welchem Finger frau (oder mann) wo mehr rubbeln oder drücken sollte oder wie sie angefasst werden will. Andererseits organisieren sich auch die Maskulisten und Antifeministen online - zum Beispiel mit Männlichkeit erhöhenden und Frauenbenachteiligung leugnenden Beiträgen auf WikiMANNia.

Fazit: Obwohl die Sozialen Medien klassische Geschlechterstereotype reproduzieren, haben sie auch entscheidend zur Befreiung und Emanzipation beigetragen, indem sie helfen, die gesellschaftliche Sensibilität für Feminismus, Sexismus und Geschlechter zu erhöhen.

»Allerdings gilt es, noch weitere Kämpfe auszufechten«, bemerkt Carstensen mit Blick auf die aktuell zu beobachtende Polarisierung unserer Gesellschaft in zwei Lager: erstens die Rechtspopulisten und Konservativen, allen voran die AfD, die die Rückkehr zu geschlechterstereotypen Werten des 19. Jahrhunderts erzwingen wollen.

Und zweitens die Liberalen, eher Linken, die für das Ideal einer Gesellschaft einstehen, die von einschränkenden Kategorisierungen und Stereotypisierungen, seien sie rassistischer oder sexistischer Natur, befreit ist. Und für Letzteres gilt es zu kämpfen, denn »Zweigeschlechtlichkeit beschränkt uns, ohne sie hätten alle Menschen mehr Freiheiten und Handlungsspielräume«, sagt Carstensen.

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Fußnoten

  1. Engl. Original: »You create an online alter ego for yourself, and she is gorgeous and sexy and perfect, and what you think boys want«.- Cosslett, Rhiannon L.: Thinner, smoother, better: in the era of retouching, that's what girls have to be, auf: theguardian.com (8.9.2016).
  2. Engl. Original: »It would be more unusual for them to upload a completely undoctored picture to Instagram«.- Ebd.
  3. Turkle, Sherry: Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internets. Hamburg 1998, S. 429.
  4. Vgl. Busemann, Katrin; Gscheidle, Christoph: Web 2.0: Nutzung steigt - Interesse an aktiver Teilhabe sinkt, in: Media Perspektiven, Frankfurt/M. (41)2010, H. 7-8, S. 359-368.
  5. Vgl. ebd.
  6. Vgl. Franke, Sten: Social Network Nutzung: Frauen auf Pinterest & Instagram // Teens auf Twitter & Tumblr, auf: ethority.de (14.10.2013).
  7. Vgl. ebd.
  8. O.A.: Social Media Nutzungsstatistiken von Männern und Frauen im Vergleich in einer aktuellen Studie, auf: tobesocial.de (10.5.2016).
  9. Vgl. Hollmer, Kathrin: Autorinnen dringend gesucht, auf: jetzt.de (17.7.2012).
  10. Herbold, Astrid: Frauen im Netz. Sag doch auch mal was, auf: zeit.de (7.2.2011).
  11. Vgl.: Schönberger, Klaus: Doing Gender, Kulturelles Kapital und Praktiken des Bloggens, in: Hengartner, Thomas; Simon, Michael (Hg.): Bilder - Bücher - Bytes, Berlin, 2008.
  12. Dies wird darauf zurückgeführt, dass Männer eher journalistische Blogs zu politischen Themen schreiben, während Frauen zu persönlichen Themen bloggen.- Vgl. Hesse, Franka: Die Geschlechterdimension von Weblogs. Inhaltsanalytische Streifzüge durch die Blogosphäre, in: kommunikation@gesellschaft, Frankfurt/M. (9)2008.
  13. Vgl. Knoll, Bente u.a.: Ich im Netz. Selbstdarstellung von weiblichen und männlichen Jugendlichen in sozialen Netzwerken, o.O. 2013, online abrufbar auf: b-nk.at.
  14. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M. 1991.
  15. Vgl. Richard, Birgit u.a.: Flickernde Jugend - Rauschende Bilder. Netzkulturen im Web 2.0, Frankfurt/New York 2010, S. 210 ff.

Autor:innen

Ehemalig bei KATAPULT.

Schwerpunkt
Intergruppenkonflikt und Radikalisierung

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