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Soziologie

Kapital und Religion

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Die Soziologie erhebt den Anspruch, die soziale Wirklichkeit in einer möglichst unvoreingenommenen Weise zu untersuchen – einer Perspektive, die sich von den Wertungen, die mit der Teilnahme am Leben immer verbunden sind, so weit wie möglich frei zu machen versucht. Auch ethische Werte, auch religiöse Glaubenssysteme sollen aus dieser Außenperspektive betrachtet werden. Wie ist das möglich? Auch Soziologinnen und Soziologen leben nicht auf dem Mond, sondern mitten in der Gesellschaft; was sie tun, ist selbst Teil der gesellschaftlichen Prozesse, die sie beobachten. Es entsteht damit das Problem, wie wir als Soziologen unseren Anspruch einer Beobachtung der Gesellschaft »von außen« rechtfertigen können.

Dieser Anspruch scheint letztlich auf den Selbstwiderspruch hinauszulaufen, dass wir nicht Beobachter und Beobachtungsobjekt zugleich sein können, dass das Auge sich nicht selber sehen kann. Wir stehen vor dem Dilemma, dass wir unser Erkenntnisobjekt – die Gesellschaft – niemals als Ganzes in den Blick bekommen können. Die Perspektiven, unter denen wir die Gesellschaft beobachten, sind selbst immer schon in einer durch uns nicht kontrollierbaren Weise durch den jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontext beeinflusst.

Ansätze zur Überwindung der Subjektivität

Die monotheistischen Religionen versuchen, dieses Problem durch die Konstruktion eines überweltlichen und überzeitlichen Beobachters zu lösen. Indem wir die Perspektive Gottes auf uns einnehmen, sind wir in der Lage, unsere kollektive Identität, unser wahres Selbst zu erkennen, auch über die Grenzen unseres individuellen Lebens hinaus. Freilich läuft diese Lösung auf einen logischen »Sprung« (die Theologie nennt ihn »Glauben«) hinaus. Hinter der Idee Gottes steht faktisch nichts anderes als die für sich selbst unbeobachtbare Gesellschaft, unsere »Schuld« gegenüber Gott ist nichts anderes als unsere Schuld gegenüber uns selbst.

Der Beobachter und das Beobachtete sind also faktisch identisch, das aber ist nach den Regeln normalen Vernunftgebrauchs nicht zulässig. In der Aufdeckung des projektiven Charakters des göttlichen Wesens lag der Kern der aufklärerischen Religionskritik des 19. Jahrhunderts (Feuerbach, Comte, Marx, Nietzsche, Freud). Nicht von der Hand zu weisen ist auch deren Einsicht, dass mit der menschlichen Urheberschaft der Religion und ihrer Institutionalisierung höchst irdische Herrschaftsinteressen ihrer Träger ins Spiel kommen. Dazu kommt, dass die Weltreligionen, ihrem Anspruch, das denkbar universale Andere der Gesellschaft zu repräsentieren, tatsächlich niemals gerecht geworden sind.

Sowohl das Christentum als auch der Islam erheben zwar einen universalen Missionsanspruch. Aber ihre kulturelle Gestaltungskraft ist faktisch nur bis zur Ebene der Zivilisationen vorgedrungen, eine Weltgesellschaft haben sie bis heute nicht schaffen können. Ungeachtet ihrer missionarischen Ambitionen kann keine der Weltreligionen beanspruchen, die Menschheit zu repräsentieren. Sie grenzen sich gegeneinander ab und können zwischen den von ihnen geprägten Kulturen und Zivilisationen umso unversöhnlichere Gegensätze schaffen. »Denn was für Nationen gilt«, so formuliert es Friedrich Wilhelm Graf, »trifft analog auch für Religionen und Konfessionen zu: keine starke Identität ohne klares Feindbild«.

Ginge es nach der aufklärerischen Religionskritik, so liegt der Ausweg aus diesen Konflikten auf der Hand: Die Menschen sollen sich von falschen Projektionen befreien und sich auf sich selbst besinnen; sie sollen es lernen, ihre Geschichte nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv selbst zu machen. Diese Parolen konnten jedoch, soviel ist heute klar, ebenso wenig eine Lösung bieten, denn sie schließen das anfangs genannte erkenntnislogische Dilemma nur nach der anderen Seite hin kurz. Sie ändern nichts daran, dass die Menschen auf Spiegel, auf Projektionen angewiesen sind.

Wer ist »der Mensch«, wer ist »die Gesellschaft«? »Das 19. Jahrhundert«, schreibt Helmuth Plessner, »hat die Tendenz zur Entlarvung, weil ihm der religiöse Halt an der Offenbarung verlorengegangen ist. Nur sucht es den Halt an der neuen Wahrheit nicht in einem Jenseits hinter den Dingen, sondern diesseits der Dinge, vor ihnen, im Menschen. Alle Kritik an der Offenbarung geht in der Art zu Werke, dass sie geschichtliche Umstände und geschichtliche Urheber an die Stelle des göttlichen Urhebers setzt und die Quelle der anfänglichen Täuschung im Menschen sucht. Jeder neue Entlarvungsversuch gräbt in der gleichen Richtung nach einer noch ursprünglicheren Täuschungsquelle, verdächtigt jedes Gesicht als Maske und fahndet hinter allen Masken nach dem wahren Gesicht«.

Marx' These vom Kapital als religiöse Macht

Wenn der religiöse Spiegel fällt, dann muss die Gesellschaft sich selbst neue Spiegel suchen: wissenschaftliche, nationale, biologische, anthropologische soziologische. Aber den wichtigsten dieser Spiegel erwähnt Plessner nicht, nämlich das in Kapital verwandelte Geld. Meine an Marx anschließende These lautet, dass das im modernen Kapitalismus universal gewordene Geld längst über seine vermeintlich harmlos »ökonomische« Rolle hinausgewachsen ist. Als Kapital hat es die Funktion der Repräsentation der Gesellschaft als Totalität übernommen, die in der Vormoderne den Religionen zukam.

Mit dem Begriff des Kapitals meint Marx bekanntlich die Ausdehnung des Geldnexus bzw. der Warenform von fertigen Produkten oder Dienstleistungen auf die Voraussetzungen gesellschaftlicher Reproduktion selbst: den Boden, die Natur und vor allem die freie menschliche Arbeitskraft. Märkte für Güter und Dienstleistungen hat es fast zu allen Zeiten gegeben, aber erst seit in der europäischen Neuzeit und speziell seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts haben sich auch Arbeits- (nicht Sklaven-)märkte sowie Bodenmärkte in breitem Umfang entwickelt. Der Sozialanthropologe Karl Polanyi hat später für die Kennzeichnung dieses epochalen bergangs den Ausdruck »Große Transformation« geprägt. Der Markt und mit ihm die Ware-Geld-Beziehungen gewinnen damit einen umfassenden, den gesamten Prozess gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion vermittelnden Charakter.

Von besonderer Bedeutung dabei ist die Verwandlung der Arbeitskraft in eine Ware. Arbeit ist bei Marx nicht nur ein ökonomischer, sondern ein gesellschaftstheoretischer Begriff. Er meint nicht nur die industrielle Arbeit, sondern Arbeit im weitesten Sinn, so, wie wir diesen Begriff auch in der Umgangssprache gebrauchen: Körperliche wie geistige Arbeit, Männer- und Frauenarbeit, handwerkliche, künstlerische Arbeit und so weiter. Die Reihe der Arbeitsbegriffe ist nicht abschließbar, denn letztlich geht es um den theoretisch niemals einholbaren Prozess der Vermittlung zwischen der physischen und biologischen Welt einerseits, der symbolischen Welt andererseits, der die gesellschaftliche Wirklichkeit des Menschen erst hervorbringt.

Die beiden Welten bestehen nicht einfach nebeneinander, sie lassen sich auch nicht entweder nach der physisch-biologischen oder nach der symbolischen Seite hin auflösen. Sie konstituieren sich vielmehr erst durch ihre Differenz, ihre nur prozessual zu verstehende Mitte, die eben die Arbeit ausmacht. So kann man die sicherlich unfertige und interpretationsbedürftige Position Marx' in den Frühschriften lesen, und so wird später auch Plessner mit seiner These der »exzentrischen Positionalität« des Menschen argumentieren.

Wenn diese vermittelnde Tätigkeit aktuell oder potentiell unter das Regime des Geldes gerät – und das nicht nur objektiv (wie im Fall der Sklavenarbeit), sondern auch subjektiv in der Form der modernen Lohnarbeit – dann wird Geld in der Tat zu so etwas wie einem »Spiegel« des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses und macht diesen Prozess umgekehrt als Selbstreproduktion des Menschen erkennbar. Geld, das sich nicht nur gegen fertige Güter, sondern gegen die freie Arbeitskraft selbst tauscht und darüber hinaus auch den Boden, die Natur kontrolliert, wird zu Kapital.

Einerseits macht es dadurch die Einheit des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses sichtbar, erlaubt es uns überhaupt erst, im allgemeinen Sinn von »Arbeit« zu sprechen, wie Marx in der Einleitung zu den »Grundrissen« betont. Andererseits wird es dank der Kontrolle über das Arbeitsvermögen selbst zu einem universalen »Vermögen«. Alles könnte anders werden, die Frage ist nur noch, zu welchen Kosten und mit welchen Gewinnen. Georg Simmel wird später vom Geld als einem »absoluten Mittel« sprechen, das genau wegen seiner Indifferenz gegen jeden konkreten Zweck zu einem absoluten Zweck heranwächst. Mit anderen Worten: Als Kapital gewinnt Geld die gleiche Funktion der Repräsentation der Gesellschaft als Totalität, die in der Vormoderne der Religion zukam. In diesem Sinne kann man von einer »religiösen« Funktion des Kapitalismus sprechen.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Kapital und Religion

Der technische Begriff »Funktion« wird hier nicht ohne Grund verwandt, denn seine methodische Bedeutung besteht ja darin, dass er Vergleiche ermöglicht und zu Vergleichen einlädt. Wodurch ähneln sich also Geldvermögen bzw. Kapital und Religion in der Weise, wie sie die Einheit der Gesellschaft repräsentieren und wodurch unterscheiden sie sich?

Das Problem der Selbstrepräsentation der Gesellschaft wird durch den Kapitalismus in anderer Weise gelöst als durch die Religionen: Nicht durch Projektion einer überweltlichen und überzeitlichen Wirklichkeit, sondern durch eine Dynamisierung der irdischen Wirklichkeit selbst. Die frühen Christen, so hat Reinhart Koselleck gezeigt, warteten noch auf die Wiederkunft Christi und hofften, dass die Wartezeit möglichst kurz ausfallen möge.

Im modernen Kapitalismus nehmen die Menschen die Verkürzung der Zeit selbst in die Hand. Die Dynamisierung erstreckt sich nicht allein auf die Zeitdimension, wie Hartmut Rosa mit seinem Konzept der »Beschleunigung« nahelegt, sondern auch auf die Sach- und Sozialdimension. Es geht nicht allein um Effizienz, also die Herstellung der gleichen Produkte in immer kürzerer Zeit, sondern um die ständige Erfindung neuer Produkte, neuer Bedürfnisse, neuer Lebensformen.

Der Kapitalismus muss, um als soziale Formation intakt zu bleiben, immer neue technische, soziale, kulturelle »Revolutionen« hervorbringen. Um diese Revolutionen vorzubereiten, muss er immer neue Konsummoden, immer neue Produktions- Organisations- und Kommunikationsmythen inszenieren.

Was diese Innovationen antreibt, sind nicht die vielbeschworenen ökonomischen »Sachgesetzlichkeiten«, sondern eine Art Utopie: Die Utopie absoluten Reichtums, der Ausschöpfung der Möglichkeiten gesellschaftlicher Arbeit. Der Kapitalismus ist eine Religion des Menschen, der zu sich selbst zu kommen sucht, indem er bestehende Existenzformen durch immer neue »schöpferische Zerstörung« überwindet. Dass wir es selbst sind, die diese Welt schaffen, muss jede Generation immer wieder neu beweisen; sogar Individuen müssen sich immer neu »erfinden«. Kreativität ist damit nicht länger freie Tätigkeit, sondern ein Imperativ von religiöser Unbedingtheit: Nicht mehr in einem transzendenten Ziel, sondern in dem Prozess selbst liegt die Erlösung.

Nicht das Mitgefühl mit dem Nächsten und die Verantwortung vor Gott steht im Zentrum der kapitalistischen Ethik, sondern ein nahezu absolut gesetzter individueller Eigentumsanspruch.

Wie die Religionen etabliert auch der Kapitalismus eine universale moralische Ordnung, wiederum aber eine gänzlich anderer Art als die der traditionellen Religionen. Nicht das Mitgefühl mit dem Nächsten und die Verantwortung vor Gott steht im Zentrum der kapitalistischen Ethik, sondern ein nahezu absolut gesetzter individueller Eigentumsanspruch.

Dieser Anspruch verknüpft sich mit einer Utopie, wie sie stärker kaum sein könnte: Wenn ich nur genug Geldvermögen habe, dann »kann« ich alles, was die Menschheit kann; ich kann mir alle Güter der Welt kaufen, auch Gesundheit, Bildung, Schönheit, vielleicht eines Tages sogar Unsterblichkeit, wie uns heute die Biotechnologie-Propheten versprechen. Im Kern handelt es sich um eine egozentrische, nicht bloß »hedonistische«, sondern sogar »narzisstische« Ethik. Freilich ist der kapitalistische Eigentümer von den Anderen – vor allem natürlich von jenen, die die Arbeit leisten müssen – objektiv keineswegs unabhängig; im Gegenteil, diese Abhängigkeit ist umfassender als jemals zuvor.

Aber die moralische Reflexion dieser Abhängigkeit reduziert sich auf das zivilisatorische Minimum der elementaren Rechte auf Leben und Eigentum, wenigstens des fiktiven Eigentums an der eigenen Arbeitskraft. Der globale Markt ist zwar kein völlig moral- und rechtsfreies System; wer tauscht, schlägt den Anderen nicht tot oder nimmt ihm sein Eigentum einfach weg. Aber alle weitergehenden Gerechtigkeitsansprüche sind auf der Ebene des Gesamtsystems irrelevant. Es ist diese Gleichgültigkeit gegenüber lokalen und nationalen Institutionen und moralischen Ordnungen, die die Ausbildung des Kapitalismus als globale Ordnung zweifellos wesentlich erleichtert hat.

Das ist jedoch nur die eine Seite. Auf der anderen wäre – das ist oft gesagt worden – eine Gesellschaft, die durch nichts anderes zusammengehalten wird als durch den Markt, undenkbar. Eine solche Gesellschaft würde auf eine »krasse Utopie« mit zerstörerischen Konsequenzen in der Praxis hinauslaufen, wie Karl Polanyi mit Recht betonte. Keine Gesellschaft kann ohne soziale und moralische Einbettung der Wirtschaft funktionieren. Der Kapitalismus bleibt daher auf einen Kernbestand der überkommenen moralischen und institutionellen Ordnungen einschließlich der traditionellen Religionen angewiesen, die ein höheres Niveau sozialer Integration der Gesellschaft sicherstellen.

Aber das Problem dieser Ordnungen ist, dass sie fast ohne Ausnahme »subglobal« verfasst sind, dass ihre Reichweite sich auf die Ebene von Staaten, höchstens Staatenverbünden oder Zivilisationen beschränkt. Daher bleiben sie anfällig gegen die globale Utopie des Kapitalismus und die durch sie ausgelöste Dynamik. Für die auf Weltebene agierenden Kapitaleigentümer gibt es immer die Option, Differenzen zwischen lokalen und nationalen Sozialordnungen gewinnträchtig auszunutzen. Diese Dynamik führt zu einer immer neuen Unterhöhlung dieser Ordnungen und schafft einen Zustand beständiger Unruhe, in dem auch religiöse Werte nur noch auf Zeit gelten.

Fußnoten

  1. Graf, Friedrich Wilhelm: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, 3. Aufl., München 2004, S. 35.
  2. Plessner, Helmuth: Die Stunden des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Gesammelte Schriften IV, Frankfurt/M 1981, S.105.
  3. Vgl. Polanyi, Karl: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/M 1978.
  4. Vgl. Plessner, Helmut: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Gesammelte Schriften IV, Frankfurt/M 1981.
  5. Vgl. Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 25.
  6. Simmel, Georg: Philosophie des Geldes, Gesamtausg., Bd. 6, Frankfurt/M 1989, S. 298.
  7. Vgl. Koselleck, Reinhard: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/M 2003, S. 184f.
  8. Vgl. Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/M 2005.

Autor:innen

Special Subjects
Industrial relations
Sociology of management
Economic sociology

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