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Streik-Kultur

Wir geh’n zum Streiken in den Keller

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Die GDL macht mobil. Für höhere Löhne, gegen die Bahn und – gegen die Bahnreisenden. So scheint es, wenn man einem großen Teil der öffentlichen Wahrnehmung Glauben schenken will: Pendler und Reisende sind entnervt, verstehen die Streikführenden nicht und die Verhältnismäßigkeit des Streiks wird infrage gestellt.

Wieso fehlt den Deutschen das Verständnis für diesen Aufstand? Liegt es am aktuellen Machtkampf der Gewerkschaften untereinander? Oder liegt diesem Unverständnis ein tiefergehendes Phänomen zugrunde?

Der ehemalige Résistance-Kämpfer und Essayist, der Franzose Stéphane Hessel forderte im Jahr 2010, im Alter von 93 Jahren, in seiner Streitschrift »Empört Euch!« eine engagiertere Lebenshaltung und zivilen Ungehorsam. Über die Deutschen soll Lenin einst gesagt haben, dass sie nicht einmal einen Bahnsteig besetzten, ohne zuvor eine Karte gekauft zu haben. Und schon Tacitus berichtet im Zusammenhang mit einem Würfelspiel über die kuriose Fügsamkeit der Germanen: »Der Besiegte tritt in freiwillige Knechtschaft; obgleich jugendkräftiger, obgleich stärker, läßt er geduldig sich binden und verkaufen. So groß ist die Hartnäckigkeit in der fehlerhaften Sache; sie selbst nennen es treue Ehrlichkeit.«

Woher kommt diese zahme Obrigkeitstreue? Oder ist sie ein Mythos? Klar ist: Streiken kann nur, wer sich auch in der Position dazu befindet, heißt, er muss organisiert sein und über einen relevanten Einfluss auf die betriebliche Entwicklung verfügen. Im Falle der Bahn kommt hinzu, dass die Lokführer sich in einer Schlüsselposition befinden und die wirtschaftlichen Auswirkungen besonders groß sind, was die öffentliche Aufmerksamkeit steigen lässt.

In Zahlen sieht das so aus: Im Jahr 2014 entfielen in Deutschland etwa 90 Prozent der Streiks und 97 Prozent aller Ausfalltage auf den Dienstleistungssektor. Laut Streikstatistik der Bundesagentur für Arbeit verloren die meisten Arbeitstage Betriebe aus dem Landverkehr (etwa 44.000), der Telekommunikation (etwa 25.000), dem Einzelhandel (etwa 22.000), der Öffentlichen Verwaltung (etwa 20.000) und der Luftfahrt (etwa 19.000) – wenig gestreikt wurde beispielsweise in den Bereichen der Gebäudebetreuung (284) oder der künstlerisch-kreativen Tätigkeiten (167).

Im internationalen Vergleich ist in Deutschland die Bereitschaft zum Arbeitskampf vergleichsweise gering: Laut dem Bericht der Hans-Böckler-Stiftung liegt die BRD mit durchschnittlich nur 16 Ausfalltagen auf 1.000 Beschäftigte, bezogen auf den Zeitraum von 2005 bis 2013, nur im unteren Bereich. In Frankreich waren es im gleichen Zeitraum beispielsweise 139. Bezogen auf die Reallohnentwicklung zeigt sich, dass in den Ländern, in denen mehr gestreikt wird, auch die Löhne entsprechend schneller steigen.

Zu Streiken, scheint sich also zu lohnen. Daher sollte in Deutschland nicht nur das Verständnis für die Streikenden steigen, sondern auch die eigene Bereitschaft, für seine Interessen einzustehen.

Autor:innen

Geboren 1983, ist seit 2015 Redakteur bei KATAPULT und vor allem als Layouter, Grafiker und Lektor tätig. Er hat Germanistik, Kunstgeschichte und Deutsch als Fremdsprache an der Universität Greifswald studiert.

Sein wissenschaftliches Hauptinteresse liegt im Bereich der Sprachwissenschaft.

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