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Mindestlohn

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Als zu Beginn des Jahres 2015 der gesetzliche Mindestlohn eingeführt wurde, prognostizierten diverse Wirtschaftsverbände massive Stellenkürzungen und Wettbewerbsnachteile für deutsche Unternehmen. Die Arbeitnehmerseite, öffentlich vertreten durch Gewerkschaften, erhoffte sich eine Reduktion von Armut – vor allem im Niedriglohnsektor.

Dass die deutsche Wirtschaft aufgrund höherer Löhne implodierte, ist nicht eingetreten und auch die Arbeitslosenquote ist seither stetig zurückgegangen. Doch wie geht es den Beschäftigten drei Jahre nach der Einführung des Mindestlohns?

Wieviel ist das Mindeste?

Laut dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung ist eine klare Gehaltssteigerung im Niedriglohnsektor zu verzeichnen. Der Stundenlohn der schlechtbezahltesten fünf Prozent der Beschäftigten stieg von 2014 bis Ende 2016 um 12,5 Prozent, während jener der Mitte der Lohnverteilung nur um etwa sieben Prozent wuchs.[1] Derzeit liegt der gesetzliche Mindestlohn bei 8,84 Euro pro Stunde – 0,34 Euro mehr als zu seiner Einführung.[2]

Ob und wie stark mit einer Anhebung zu rechnen ist, wird alle zwei Jahre von der neunköpfigen Mindestlohnkommission erarbeitet und von der Bundesregierung beschlossen. Hauptargumente der Entscheidungen sind nach eigener Aussage, »zu einem angemessenen Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen und Beschäftigung nicht zu gefährden«[3]. 2018 wurde der Mindestlohn nicht weiter angehoben.

Im April 2018 ergibt sich aus der branchenunabhängigen Bindung bei einer Vollzeitbeschäftigung ein Bruttogehalt von 1.414,40 Euro, Netto bleiben 1.057,73 Euro.[4] Was erst einmal nach nicht allzu wenig klingen mag, liegt noch immer deutlich unter der deutschen Niedriglohnschwelle. Diese ergibt sich aus zwei Dritteln des Medianlohns – dem mittleren Lohn nach Verteilung – und liegt derzeit bei 10,11 Euro. Dass der Mindestlohn noch immer nicht hoch genug ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass 7,6 Prozent jener, die weniger als 10 Euro Stundenlohn bekommen, zusätzlich Hartz-4-Leistungen beziehen.

Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Höhe des Mindestlohns bleibt also gestellt. Zudem würden die Zahlen des Niedriglohnsektors derzeit auch deutlich besser ausfallen, wenn der gesetzliche Mindestlohn nicht so oft umgangen würde.

Jeder zehnte Mindestlohn liegt unter dem Minimum

Folgt man den Daten der Hans-Böckler-Stiftung, erhalten 9,8 Prozent der Beschäftigten keinen Mindestlohn, obwohl er ihnen zusteht. Das sind 2,7 Millionen Menschen in Deutschland. Als Grund wird oft der Personalmangel in Kontrollbehörden angeführt. Tatsächlich bedarf es genauerer Kontrollen, als eines Blicks auf den Lohnzettel, denn den Strategien der Mindestlohnumgehung fehlt es nicht an Originalität und Vielfalt.

Die Daten der Böckler-Stiftung enthalten nur auf Arbeitskonten gebuchte Stunden, das heißt, unbezahlte Überstunden sind nicht mitberechnet. Gerade diese sind jedoch interessant, weil der Mindestlohn darüber leicht umgangen werden kann. Selbst wenn die Bezahlung der Kernarbeitszeit auf 8,84 Euro Stundenlohn rückschließen lässt, senkt jede unbezahlte Überstunde den tatsächlichen Lohn.

Auch eine unrealistische Einschätzung der verfügbaren Zeit für bestimmte Aufgaben ist ein beliebtes Mittel. Dabei verlieren Beschäftigte häufig doppelt, da sie nicht nur zu viel arbeiten, sondern am Ende auch bei sich selbst die Verantwortung suchen. Sie verrichten die aufgetragene Arbeit »dann lieber ordentlich« und zahlen dafür unentlohnt mit der eigenen Lebenszeit, anstatt vom Konto des Arbeitgebers. Diese Strategie funktioniert besonders gut bei atypischen Beschäftigungen wie Minijobs, bei denen die Gesamtarbeitszeit im Monat ohnehin gesetzlich begrenzt ist. Häufig betroffen ist Hauspersonal, von dem 43 Prozent nicht den verdienten Mindestlohn erhält. Hier ist die Kontrolle am schwierigsten und die Dunkelziffer vermutlich am höchsten.

Vor allem in der Gastronomie bleiben faire Löhne aus

Ein weiteres herausstechendes Berufsfeld, in dem der Mindestlohn oft umgangen wird, ist die Gastronomie. 38 Prozent der Beschäftigten erhalten in dieser Branche keinen Mindestlohn. Auch hier ist mit einer viel höheren Dunkelziffer zu rechnen, da es seit Einführung des Mindestlohns in Mode ist, mit einem Gewerbeschein, also in Selbstständigkeit, Dienstleistungen auszuführen. Somit können Gaststätten- und Barbetreiber auf legalem Wege auch weiterhin deutlich weniger als den Mindestlohn zahlen – schließlich bestimmt der Beschäftigte, zu welchem Preis er seine Leistung anbietet. Dabei verliert die Arbeitnehmerseite wieder doppelt, denn sie bleibt nicht nur auf schlechten Lohnbedingungen sitzen, sondern auch auf Sozial- und Rentenabgaben. Für diese muss der Auftraggeber nämlich nicht aufkommen. Für die Beschäftigten ergibt sich zudem zusätzlicher Aufwand, da es einer weiteren Stelle bedarf, um nicht in die illegale Scheinselbständigkeit zu geraten. Dies bedeutet weiteren Planungsaufwand, der nirgendwo abgerechnet wird, ebenso wie die Zeit, die für die Rechnungsstellung und die verpflichtende Steuererklärung aufgebracht werden muss.

Auch das häufig angebrachte Argument des Trinkgeldes, das den Lohn (möglicherweise auch auf Niedriglohnniveau) anhebe, ist zu überdenken. Kellner sind nicht Angestellte der Gäste, sondern des Betriebs, und dieser sollte eine auslastungsunabhängige Lebensgrundlage schaffen. Sie sind keine Teilhaber der Lokale, in denen sie arbeiten, und sollten demnach in ihrer Existenzsicherung auch nicht von Besucherzahlen abhängig sein. Zudem gibt es weitere Faktoren wie Warenpreise, die Einfluss auf das Trinkgeld haben, aber außerhalb des Einflusses der ausführenden Kräfte im Gastgewerbe liegen.

Was kann man gegen die Umgehung des Mindestlohns tun?

Neben umfassenderen Kontrollen von staatlicher Seite liegt ein Schlüssel in der Mitbestimmung – und zwar im Kleinen wie im Großen. In Betrieben, die über einen Betriebsrat verfügen, liegt die Umgehungsquote bei nur 4,4 Prozent. Entgegen der Vermutungen vieler ist die Gründung eines Betriebsrats nicht nur eine Option für große Unternehmen, sondern kann ab fünf stimmberechtigten Mitarbeitern ins Leben gerufen werden.[5]

Ein weiterer starker Einfluss lässt sich in Betrieben mit Tarifbindung erkennen. Hier haben nur 5,8 Prozent der Angestellten Probleme mit Mindestlohnumgehungen. Tarifverträge werden regelmäßig und länderspezifisch durch Gewerkschaften und Branchenvertreter verhandelt. Auch die Gaststätten- und Hotelbranche hat ihre eigene Gewerkschaft: Die NGG (Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten), die beispielsweise in Berlin ab Juli 2017 das niedrigste tarifvertragliche Stundenentgelt bei 9,72 Euro festschrieb. Auch die Überschneidung von Betriebsrat und Tarifbindung lässt sich anstreben, denn kommen beide zusammen, liegt die Quote der Mindestlohnumgehung nur noch bei 3,2 Prozent.

Im Vergleich mit anderen EU-Ländern steht Deutschland selbst unter Einbeziehung der Lebenshaltungskosten noch ziemlich gut da. 22 der 28 EU-Staaten verfügen über gesetzlich festgelegte Untergrenzen, die sich in ihrer Ausprägung jedoch sehr unterscheiden. Zwar ist im vergangenen Jahr gerade in Ländern Osteuropas eine enorme Steigerung des Mindestlohns zu verzeichnen,[6] doch noch immer liegen die Mindestlöhne hier fast ausschließlich unter fünf, teils sogar weit unter drei Euro.[7]

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