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Politische Bildung

Zum Stellenwert politischer Bildung in der Schule

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Fast allen Parteien und Landesregierungen ist politische Bildung in der Schule wichtig. In krisenhaften Zeiten werden sie nicht müde, sie als Mittel gegen Fake News, Extremismus, Rassismus, Populismus, Politikverdrossenheit und andere Unerwünschtheiten zu loben. In den Schulen der verschiedenen Bundesländer wird die politische Bildung jedoch nicht in gleichem Maße ernst genommen, wie eine neue Rangliste zeigt.

Das »Ranking Politische Bildung« misst den Anteil von politischer Bildung in der Schule und vergleicht die Bundesländer untereinander. Es soll herausgefunden werden, wie sich die Forderungen von Politikerinnen und Politikern zur Realität in den Schulen verhalten. Erfasst wird die Sekundarstufe I mit den Jahrgangsstufen fünf bis neun oder zehn. Auch in der Sekundarstufe II gibt es Politikunterricht, der aber nicht Gegenstand der Untersuchung ist.

Stundentafeln sind Politik

Der Indikator zeigt, welchen Stellenwert die Bildungspolitik der politischen Bildung an Schulen tatsächlich einräumt. Grundlage sind die von den Bildungsministerien erlassenen Stundentafeln, die festlegen, welche Fächer mit wievielen Stunden wöchentlich unterrichtet werden sollen. In Stundentafeln kommt damit der bildungspolitische Wille in Gestalt von Schulfächern und ihrer Gewichtung im gesamten Bildungsgang zum Ausdruck. Stundentafeln sind relevant, weil jede Unterrichtsstunde nur einmal erteilt werden kann.

Die Lage der politischen Bildung variiert nach Schulformen und Bundesländern und findet dort in ganz unterschiedlichen Fächern statt. Um dies vergleichen zu können, ist es deshalb notwendig, die Diversität der politischen Bildung zu reduzieren. Das Ranking wählt deshalb das für politische Bildung jeweils explizit zuständige Schulfach für den Vergleich aus – das sogenannte Leitfach. Diese Fächer heißen etwa »Politik« (z. B. Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen), »Sozialkunde« (z. B. Bayern, Rheinland-Pfalz, Thüringen) oder »Politik und Wirtschaft« (Hessen).

Mit wie vielen Stunden ein Schulfach pro Woche unterrichtet werden soll, legt die Stundentafel fest, die die Kultusministerien für jede Schulform vorgeben. Die Stundentafel bestimmt auch die Summe sämtlicher Unterrichtsstunden, die in einem Bildungsgang vorkommen – sogenannte Kontingentstunden. Das Ranking zählt die Wochenstunden des Politikleitfaches und errechnet seinen Anteil an der Stundensumme eines ganzen Bildungsgangs. Mittels dieser Stundentafelquote vergleicht das Ranking die Vorgaben für die Verteilung von schulischer Lernzeit – es misst Bildungspolitik.

Regeln und Realität

Stundentafeln geben den quantitativen Umfang des Leitfachs vor, gelegentlich auch die Verteilung auf die Jahrgangsstufen. Lehrpläne beschreiben die inhaltliche Grundstruktur des Unterrichts. Die Schulpraxis kann aber von diesen Richtlinien mehr oder weniger stark abweichen. Die endgültige Verteilung der einzelnen Fächer auf die Jahrgangsstufen wird von Schulleitungen und Schulkonferenzen beschlossen. Die Fachkonferenzen und Lehrkräfte wiederum verantworten die Umsetzung der Lehrpläne im Unterricht. Im Schulalltag kann dies also sogar innerhalb eines Bundeslandes zu großen Unterschieden bei Umfang und Inhalt des Leitfaches der politischen Bildung führen.

Nicht zuletzt entscheidet der Personaleinsatz an der jeweiligen Schule über die Unterrichtsqualität. Fächer der politischen Bildung leiden darunter, dass ein hoher Anteil des Unterrichts von Lehrkräften erteilt wird, die nicht dafür ausgebildet wurden. Das nordrhein-westfälische Schulministerium gibt zum Beispiel den Anteil dieses fachfremden Unterrichts in »Politik« beziehungsweise »Politik/Wirtschaft« an Realschulen mit 62,7 Prozent, an Gesamtschulen mit 64,7 Prozent und an Gymnasien mit 27,2 Prozent an. In der gesamten Sekundarstufe I in NRW existiert kein anderes Schulfach, das auch nur annähernd so häufig von nicht dafür ausgebildeten Lehrkräften unterrichtet wird.

In manchen Bundesländern fehlt die Definition einer Mindeststundenzahl für die politische Bildung, etwa in Schleswig-Holstein. In der Praxis entscheiden die Schulleitungen, ob das Leitfach der politischen Bildung, das hier »Weltkunde« oder »Wirtschaft/Politik« heißt, überhaupt unterrichtet wird. Schließlich gibt es aus mehreren Ländern Indizien dafür, dass der Politikunterricht vergleichsweise häufig ausfällt. Insgesamt kann es also zu deutlichen Diskrepanzen zwischen den ministeriellen Vorgaben und der schulischen Praxis kommen.

Zudem fällt auf, dass der Name eines Schulfaches nicht immer zu den inhaltlichen Schwerpunkten der entsprechenden curricularen Vorgaben passt. Es kommt etwa vor, dass politische Inhalte in einem Fach mit der offiziellen Bezeichnung »Politik« nur einen vergleichsweise geringen Stellenwert haben. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise liegt der Anteil politischer Themen im Lehrplan für das gymnasiale Fach »Politik/Wirtschaft« unter einem Drittel, in »Politik« an der Realschule unter zwei Fünfteln. Der Rest entfällt auf gesellschaftliche und ökonomische Themen.

Schlusslichter Bayern und Thüringen

Es gibt zwar bereits drei aufschlussreiche Studien zur politischen Bildung im Bundesländervergleich. Aber nur das hier vorgestellte Ranking liefert einen quantitativen Indikator für die Doppelfrage, welche Bedeutung das Leitfach für politische Bildung in einer bestimmten Schulform hat und wie diese im Vergleich mit anderen Bundesländern abschneidet.

Für das Gymnasium ergibt die Analyse eine klar strukturierte Rangordnung der politischen Bildung, die vier Gruppen erkennen lässt: (1) Ganz unten rangiert eine kleine Gruppe von weit hinter den Median zurückfallenden Ländern, es folgen (2) ein breites Mittelfeld sowie (3) eine Gruppe eher ambitionierter Länder und schließlich (4) eine kleine Spitzengruppe.

Die Schlusslichter Bayern und Thüringen liegen weit unterhalb des Medians. Sie räumen der politischen Bildung am Gymnasium nur einen vergleichsweise geringen Anteil an der Gesamtstundenzahl ein. Zu dieser unterdurchschnittlichen Gruppe gehört auch Rheinland-Pfalz. Für die politische Bildung gewährt die bayerische Staatsregierung ihren Gymnasiastinnen und Gymnasiasten weniger als ein Achtel dessen, was die Landesregierungen von Schleswig-Holstein und Hessen ihren Lernenden anbieten.

Wenn man die gesamte Sekundarstufe I betrachtet, ohne nach Schulformen zu unterscheiden, kommt es zu keinen großen Verschiebungen. Zu den insgesamt Schlechtesten gehören hier Bayern, Thüringen, Berlin und Rheinland-Pfalz, zu den Unterdurchschnittlichen fast gleichauf Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt.

Zwischen Anerkennung und Vernachlässigung

Das Gesamtbild des Rankings belegt zum einen, dass die Bundesländer weit von einer gemeinsamen Vorstellung entfernt sind, welche Wertschätzung dem Leitfach der politischen Bildung in der Sekundarstufe I zukommen soll. Diese Diagnose stützt auch die oben genannte Studie von Lange. Das Ranking zeigt, dass das beste Land die Stundentafelquote des schlechtesten beim Gymnasium um den Faktor 8,4 übertrifft. In der gesamten Sekundarstufe I beträgt der Faktor 4,8. In den schwachen Ländern erhalten die Schülerinnen und Schüler also planmäßig nur ein Fünftel des Politikunterrichts der Spitzenreiter. Mit dem Ranking Politische Bildung stimmt Langes Studie darin überein, dass im Falle des Gymnasiums sechs Länder vergleichsweise sparsam bei den Stundenzahlen für Politik agieren: Bayern, Hamburg, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Übereinstimmend gehören Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein zur Gruppe der – formal und quantitativ – fünf besten Länder beim Politikleitfach. Zum anderen kann man anhand der Verankerung politischer Bildung in den Stundentafeln vorläufig drei bildungspolitische Kulturen unterscheiden:

1. Die Kultur der Vernachlässigung politischer Bildung bewertet das Leitfach als wesentlich weniger wichtig als andere Schulfächer. Sein Stundentafelanteil fällt weit hinter den Bundesdurchschnitt zurück. Für die gesamte Sekundarstufe I herrscht eine solche Vernachlässigungskultur offensichtlich in Bayern, Thüringen, Berlin und Rheinland-Pfalz. Für das Gymnasium trifft man sie in Bayern, Thüringen und Rheinland-Pfalz an, für die nichtgymnasialen Schulformen in Berlin und Bayern. Gut ein Viertel aller Bundesländer praktiziert eine solche Vernachlässigungskultur.

2. Den Gegenpol bildet die Anerkennungskultur. Hier erhält die politische Bildung überdurchschnittliche Stundentafelanteile. Die zahlenmäßig höchste Anerkennung für die gesamte Sekundarstufe I und für das Gymnasium findet man in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Hessen. Mit deutlichem Abstand folgen Bremen, Niedersachsen und Brandenburg. Ein gutes Drittel der Länder pflegt eine Anerkennungskultur der politischen Bildung.

3. Dazwischen liegt das Feld der Mittelmäßigkeit, das der politischen Bildung an Schulen im Ländervergleich nur wenig Beachtung schenkt. Hierzu zählt ein gutes Drittel der Bundesländer: Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und das Saarland.

Im Vergleich schwach abschneidende Länder rechtfertigen sich gerne damit, dass politische Bildung auch im Fach Geschichte stattfinde. Aus den Daten ergibt sich allerdings kein Hinweis auf einen solchen Ausgleich. Bildet man die Summe aus den Wochenstunden der gymnasialen Stundentafel für das Politikleitfach und Geschichte und errechnet den Anteil, der davon auf Politik entfällt, ändert sich die Platzierung der drei schlechtesten und drei besten Länder nicht. Bayern rangiert mit zehn Stunden und zehn Prozent Politikanteil ganz unten, es folgen Thüringen (10 Stunden, 20 Prozent) und Rheinland-Pfalz (10 Stunden, 30 Prozent). Ganz oben stehen Schleswig-Holstein und Hessen mit einer Stundensumme von jeweils 14 und einem 50-Prozent-Anteil für das Leitfach der politischen Bildung.

Politikversagen bei der politischen Bildung?

Internationale Vergleichsstudien wie die »International Civic and Citizenship Education Study 2016« weisen nach, dass die politische Bildung von Kindern und Jugendlichen in der Schule für Demokratie und Gesellschaft hochrelevant ist. Jedoch hat nur Nordrhein-Westfalen an dieser Studie teilgenommen.

Vor allem bei Lernenden mit niedrigerem sozioökonomischem Status fördert politisches Wissen aus dem Unterricht gesellschaftlich-politisches Interesse. Echte und relevante Mitbestimmung in der demokratischen Schule verstärken dieses Interesse noch, da Diskussionsanlässe das Interesse der Lernenden an gesellschaftlichen und politischen Themen positiv beeinflussen.

Um Grundlagen für die Demokratie in Politik und Gesellschaft bei jeder Generation neu zu schaffen, sollte die politische Bildung in Schulen ein wichtiges Anliegen der Politik sein. Gemessen an den Politikstunden, die sie ihren Schülerinnen und Schülern gewähren, benötigen aber nicht wenige Bundesländer offenbar noch Entwicklungshilfe.

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Fußnoten

  1. Vgl. Gökbudak, Mahir; Hedtke, Reinhold: Ranking Politische Bildung 2017. Politische Bildung an allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I, Bielefeld 2018. (Didaktik der Sozialwissenschaften, Working Paper No. 7)
  2. Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht 2016/17, Düsseldorf 2017, S. 128-130.
  3. Gökbudak, Mahir; Hedtke, Reinhold: 17 Minuten Politik, 20 Sekunden Redezeit. Daten zum Politikunterricht in der Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen, Bielefeld 2018. (Didaktik der Sozialwissenschaften, Working Paper No. 6)
  4. Lange, Dirk: Monitor politische Bildung. Daten zur Lage der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2010; Kalina, Andreas: Erfolgreich. Politisch. Bilden. Faktensammlung zum Stand der politischen Bildung in Deutschland, 2. Aufl., Sankt Augustin 2014; Besand, Anja: Monitor politische Bildung an beruflichen Schulen. Probleme und Perspektiven, Schwalbach/Ts. 2014.
  5. Stichtag für die Erhebung war der 1.10.2017.
  6. Der Median ist der Wert, der in der Mitte einer nach Größe geordneten Liste von Zahlen steht und diese in zwei gleich große Hälften teilt.
  7. Vgl. Gökbudak, Mahir; Hedtke, Reinhold: Was ist den Kultusministerien die politische Bildung an allgemein bildenden Schulen wert?, in: Polis, (22) 2018, H. 2, S. 12-15.
  8. Vgl. Schulz, Wolfram u.a.: Becoming Citizens in a Changing World. IEA International Civic and Citizenship Education Study 2016. International Report, Amsterdam 2017.

Autor:innen

Universität Bielefeld

Forschungsschwerpunkte
Konzeptionen politischer und ökonomischer Bildung
Praktiken sozioökonomischer Bildung
Partizipative Bürgerbildung

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