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Familienpolitik

Gleichberechtigung ist was für Reiche

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»Ich wünsche mir, dass es selbstverständlich wird, dass Männer und Frauen Erwerbs-, Erziehungs- und Hausarbeit gleichberechtigt aufteilen und niemand aufgrund seines Geschlechts in eine bestimmte Rolle oder Aufgabenverteilung gedrängt wird.« – Im November 2018 betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit diesem Satz ihren Willen zur Gleichstellung der Geschlechter.

Die deutsche Familienpolitik setzt seit der Jahrtausendwende vermehrt auch Geschlechtergerechtigkeit durch. Mütter sollen nach der Geburt eines Kindes schneller wieder arbeiten können, um vom Partner unabhängig zu bleiben. Sie sollen wie Männer ein eigenständiges Einkommen erwerben können. Dafür wurden Maßnahmen wie das Elterngeld, das Elterngeld Plus und der Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige beschlossen. Damit sollten sich Kindererziehung und Berufstätigkeit vereinbaren lassen.

Für die Gleichstellung der Geschlechter stellen die Gesetze in der Regel eine Verbesserung dar. Die Soziologinnen Katrin Menke und Ute Klammer von der Universität Duisburg-Essen zeigen jedoch, dass die Reformen Mängel im Hinblick auf die soziale Gerechtigkeit aufweisen.

Wer verdient die Brötchen?

Üblicherweise werden Sozial- oder Wohlfahrtsstaaten in verschiedene Modelle klassifiziert. Als Unterscheidungsmerkmal gilt, welche Institution hauptverantwortlich für die soziale Absicherung ist: Liegt die Verantwortung beim Markt, beim Staat oder in der Familie?

In der Familienpolitik unterscheiden Wissenschaftler zwischen zwei Modellen: Dem »Male Breadwinner«- (»männlicher Ernährer«) und dem »Dual Earner«-Modell (Doppelverdiener). Das Male-Breadwinner-Modell entspricht einem konservativen Familienkonzept. Der Mann verdient die Brötchen, die Frau übernimmt die Fürsorge. Erziehung und Pflege liegen in der Verantwortung der Familie – also meist der Frau. Beim Dual-Earner-Modell ist die Fürsorgearbeit ausgewogener zwischen den Partnern verteilt und der Staat bietet Alternativen zur familiären Verantwortung.

Am Beispiel der Maßnahmen in Deutschland stellen Klammer und Menke einen Paradigmenwechsel fest. Die Abschaffung des Erziehungsgeldes und die Einführung des Elterngeldes bedeute den Wechsel vom männlichen Ernährer hin zum Modell der doppelten Berufstätigkeit.

Das Erziehungsgeld, das es von 1986 bis 2006 gab, bekamen nur Familien mit niedrigen Einkommen. Es stand einkommensschwachen Eltern als finanzielle Stütze zur Verfügung. Bekam die Familie ein Kind, hatte ein Elternteil für zwei Jahre Anspruch auf das Erziehungsgeld. Während dieser Zeit musste das Arbeitsverhältnis ruhen, dann zahlte der Bund als Ausgleichsleistung monatlich 300 Euro. Nach Ablauf der Erziehungszeit konnte der für die Erziehung freigestellte Elternteil wieder arbeiten gehen. Durch diese Gesetzeslage wurde die Erziehungsarbeit eines Elternteils innerhalb der Familie gefördert. Für den erziehenden Elternteil bedeutete das aber einen »Karriererückstand« von mindestens zwei Jahren. Oftmals nahm er für die Rückkehr auf den Arbeitsmarkt auch nur eine Teilzeitstelle an. Diese Regelung benachteiligte vor allem Frauen, da in der Praxis eher Mütter die lange Auszeit nahmen und die Familie vom Einkommen des Mannes abhängig war. Das Erziehungsgeld unterstütze also das Male-Breadwinner-Modell.

2007 führte die große Koalition das Elterngeld ein. Unter der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) vollzog die Regierung damit einen entscheidenden Paradigmenwechsel. Der Staat unterstützt seitdem nur noch eine zwölfmonatige Elternpause. Eltern können zusätzlich zwei weitere Monate gefördert werden – sogenannte Partnermonate –, wenn beide Elternteile jeweils mindestens zwei Monate Elternzeit nehmen. Die Geldleistungen knüpfen an das vorher erzielte Gehalt an: Zwei Drittel des Lohns werden fortgezahlt, der Maximalausgleich beträgt 1.800 Euro monatlich. Bei einkommensschwachen Familien kann der Lohnersatz bei bis zu 100 Prozent liegen.

Unter Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) wurde 2015 das Elterngeld Plus eingeführt, um die individuelle Flexibilität zu fördern: Die Elternzeit verdoppelt sich, während sich der monatliche Bezug halbiert. So können Eltern, wenn sie es möchten, einen Monat Elterngeld in zwei Monate Elterngeld Plus umwandeln. Das ermöglicht es, schon früher wieder in eine Teilzeitbeschäftigung zu gehen. Für Familien erhöht sich die Wahlfreiheit, wie sie die Erziehungsarbeit aufteilen und organisieren möchten. Studien zeigen, dass die Erwerbstätigkeit von Frauen seitdem zugenommen hat. Besonders der starke Rücklauf der Erwerbstätigkeit nach der Geburt fällt heute geringer aus. Durch das Elterngeld haben sich die Rollen von Mann und Frau angenähert.

Sozial Benachteiligte werden ausgeschlossen

Im Gegensatz dazu sei die soziale Gerechtigkeit aus dem Blick geraten, stellen die Wissenschaftlerinnen fest. Durch die Einführung der Regelungen sei sie nicht nur vernachlässigt worden, sondern habe sich sogar verschlechtert. Geschlechtergerechtigkeit sei nicht in allen Teilen der Bevölkerung gefördert worden:
(1) Erwerbslose erhalten keine Zahlungen mehr, da der Bund das Elterngeld mit Sozialhilfeleistungen wie dem sogenannten Hartz IV verrechnet. Wirkliche Wahlfreiheit für Frauen besteht damit lediglich in der Gruppe der erfolgreich erwerbstätigen Bevölkerung. (2) Personen, die nicht aus der Schweiz, der EU oder der europäischen Wirtschaftsunion stammen, dürfen nur Elterngeld beziehen, wenn sie einen dauerhaften Aufenthaltsstatus und zusätzlich eine Erwerbserlaubnis besitzen. Lediglich anerkannte Aufenthaltserlaubnisse, -genehmigungen und Duldungen reichen seit der Änderung nicht mehr aus. (3) Beschäftigten in Kleinbetrieben von höchstens 15 Mitarbeitern und befristet Beschäftigten steht die Teilzeitoption aus dem Elterngeld Plus ebenfalls nicht zu. Auch hier setzt die Wahlfreiheit aus.

Zuletzt hat die Regierung die Anspruchsberechtigung auf hohe Einkommen erweitert. Der einkommensabhängige Lohnersatz wirkt statuserhaltend, da Gutverdiener mehr Leistungen als Niedriglöhner erhalten. Zwar können Geringverdiener auch den vollen Lohnersatz erhalten, was aber wenig an dem ungleichen Verhältnis ändert. Niedriglöhner profitieren weiterhin in geringerem Maße, da die Teilzeitoption aus dem Elterngeld Plus finanziell viel zu riskant wäre: Das halbe Elterngeld wirkt zusammen mit einem Teilzeitlohn nicht existenzsichernd. Elterngeld Plus ist für (4) Geringverdiener daher in der Realität keine echte Alternative. Gleiches gilt in noch stärkerem Maße für (5) Alleinerziehende.

Dadurch wird die Geschlechtergerechtigkeit insgesamt eher selektiv als inklusiv gefördert: Die Maßnahmen schließen sozial Benachteiligte nicht mit ein. Andere Studien zeigen, dass die Rückkehr auf den Arbeitsmarkt bei Frauen weiterhin deutlich öfter ungeplant in Teilzeit und anderen prekären Beschäftigungsverhältnissen endet als bei Männern. Die Autoren nennen als möglichen Grund mangelnde Betreuungsangebote.

Paare wenden das Elterngeld Plus in der Praxis meist so an, dass der Vater lediglich die zwei Partnermonate Erziehungszeit nimmt und die Mutter die restlichen zwölf. Der Anteil der Männer in Babypause ist dadurch zwar gestiegen, das Ungleichgewicht bleibt durch die entsprechenden Anreize aber erhalten, und der Mann bleibt weiterhin der »Ernährer«. Die unzureichende Wirkung des Elterngeldes ist daher ein häufig angeführter Kritikpunkt von Wissenschaftlern und Parteien.

Die Anreize in Deutschland bleiben gegensätzlich

Auch unabhängig von den Elterngeldregelungen gibt es in Deutschland – trotz der Fokussierung auf Geschlechtergerechtigkeit – eine sehr gegensätzliche Anreizstruktur. Zwar haben die Regierungen die genannten Dual-Earner-Maßnahmen umgesetzt, dem stehen jedoch andere Regelungen wie das Ehegattensplitting als Male-Breadwinner-Maßnahme gegenüber. Beim Ehegattensplitting, das es seit 1958 gibt, erhalten Paare besonders dann steuerliche Vorteile, wenn die Einkommensunterschiede zwischen den Ehepartnern groß sind. Das verleitet dazu, dass ein Elternteil – in der Regel die Frau – mit geringem Einkommen zu Hause die Fürsorgearbeit übernimmt.

Insgesamt gibt es in Deutschland einen Mix aus finanziellen Leistungen (Elterngeld, Kindergeld), steuerlichen Erleichterungen (Ehegatten­splitting) und mittlerweile auch einem breiteren, von staatlicher Seite bereitgestelltem Angebot an familienbezogenen Dienstleistungen (Kinderbetreuung). Dadurch wird Geschlechtergerechtigkeit nur teilweise gefördert.

Immerhin wurde 2015 das von CDU und FDP befürwortete Betreuungsgeld knapp zwei Jahre nach seiner Einführung vom Bundesverfassungsgericht wieder gekippt. Diese Reform hätte womöglich zu einer stärkeren Geschlechterungleichheit geführt, da das Zuhausebleiben eines Elternteiles gefördert worden wäre. Erfahrungen aus Norwegen, Finnland und Schweden stützen diese These. In diesen Ländern besteht durch vergleichsweise stärkere staatliche Eingriffe in den Markt grundsätzlich eine höhere Geschlechtergerechtigkeit, durch dort eingeführte Betreuungsgelder hat die Ungleichheit in der Erwerbsstruktur seit den 90er-Jahren aber zugenommen. Zwar sind solche Maßnahmen formal geschlechtsneutral, erzeugen in der Praxis meist aber eine erwerbslose Mutter als Hausfrau. Das von Kritiker spöttelnd auch als »Herdprämie« bezeichnete Betreuungsgeld hätte die Geschlechtergerechtigkeit in Deutschland zurückgeworfen und die formulierten Ziele unglaubwürdig gemacht.

Was die Politik wirklich will

Da Elterngeld und Elterngeld Plus insbesondere erfolgreich Erwerbstätigen neue Möglichkeiten brachten, können vor allem leistungsstärkere Frauen einfacher auf dem Arbeitsmarkt aktiv werden. Dem Markt stehen damit mehr Arbeitskräfte zur Verfügung, was besonders Wirtschaft und Unternehmen nutzt und dem Staat mehr Steuereinnahmen bringt. Laut dem Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge stand bei der Entscheidung für den Paradigmenwechsel daher also nicht die Gleichstellung der Geschlechter im Vordergrund, sondern die Bereitstellung hochqualifizierter Frauen für den Arbeitsmarkt.

Darüber hinaus hätten die Regierungen vor allem die Geburtenraten erhöhen wollen, um dem demographischen Wandel entgegenzuwirken. Der Staat verfolge instrumentelle Ziele, anstatt die Geschlechter ernsthaft gleichstellen zu wollen. Dazu passt die Forderung Jens Spahns (CDU) vom November 2018, Kinderlose mit höheren Sozialabgaben zu belasten.

Der »Paradigmenwechsel in der Familienpolitik« sei dadurch aus Gerechtigkeitssicht als Beitrag zum allgemeinen Wandel vom aktiven zum aktivierenden Sozialstaat zu betrachten, der nach Leistung fördert und damit eine Umverteilung von Arm nach Reich betreibe.

Der Sozialstaat entstand infolge der industriellen Revolution mit dem Ziel, Marktungleichheiten entgegenzuwirken und der gesamten Bevölkerung eine würdige Lebensgrundlage zu verschaffen. Seitdem ermöglicht der Staat wirtschaftlich Benachteiligten durch Umverteilung gesellschaftliche Teilhabe.

Mit dem Elterngeld unterstützt er aber vor allem gut verdienende Familien, die sich auch ohne staatliche Unterstützung Kinderbetreuung leisten könnten. Einkommensstarke Gruppen erhalten Zuschüsse aus Steuergeldern, die auch von Geringverdienern geleistet werden. Dieser Trend ist auch an Maßnahmen wie dem Baukindergeld abzulesen, bei dem Besserverdiener mit bereits breiter finanzieller Basis vom Sozialstaat gefördert werden und am stärksten profitieren. Der ursprünglich als Sicherheitsnetz gedachte Wohlfahrtsstaat verändert sich damit auch in der Familienpolitik zu einem System mit Anreizstrukturen, das für sozial Benachteiligte existenzbedrohend sein kann.

Freie Kitaplätze fördern Gleichberechtigung

Katrin Menke und Ute Klammer empfehlen, in der Familienpolitik die Frage nach sozialer Gerechtigkeit nicht aus den Augen zu verlieren. Im Ausbau der Kinderbetreuung sehen sie Möglichkeiten, unabhängig von sozialer Herkunft, Ethnizität und Stellung am Arbeitsplatz die Geschlechtergerechtigkeit zu fördern.

Werden Kinder schon früh öffentlich betreut, können beide Elternteile trotz junger Kinder arbeiten. Dies gilt allerdings nur, wenn eine beitragsfreie Betreuung gewährleistet werden kann, die keine Bevölkerungsgruppen ausschließt. Den bestehenden Rechtsanspruch in Deutschland bewerten die Wissenschaftlerinnen dahingehend positiv. Allerdings müssen auch genug Betreuungsplätze zur Verfügung stehen, doch daran mangelt es vielerorts noch.

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Fußnoten

  1. Vgl. z.B. Pfau-Effinger, Birgit: Socio-historical paths of the male breadwinner model – an explanation of cross-national differences, in: The British Journal of Sociology, (55)2004, H. 3, S. 377-399, hier:
    S. 378f.
  2. Vgl. Menke, Katrin; Klammer, Ute: Mehr Geschlechtergerechtigkeit – weniger soziale Gerechtigkeit?, in: Sozialer Fortschritt, (66)2007, H. 3-4, S. 213-228.
  3. Vgl. Drahs, Sascha; Schneider, Ulrich; Schrauth, Philipp: Geplante und tatsächliche Erwerbsunterbrechungen von Müttern, in: DIW-Roundup: Politik im Fokus, (64) 2015, S. 4f.
  4. Vgl. Butterwegge, Christoph: Krise und Zukunft des Sozialstaates, 6. Aufl., Wiesbaden 2018, S. 177f.
  5. Vgl. Ellingsæter, Anne Lise; Leira, Arnlaug: Familienpolitische Reformen in Skandinavien – Gleichberechtigung der Geschlechter und Wahlfreiheit der Eltern, in: WSI-Mitteilungen, 2007, Nr. 10, S. 549f.
  6. Vgl. Dallinger, Ursula: Sozialpolitik im internationalen Vergleich, Stuttgart 2016, S. 159.
  7. Vgl. Butterwegge 2018, S. 178f.
  8. Vgl. z.B. Wiechmann, Elke; Oppen, Maria: Gerechtigkeitsvorstellungen im Geschlechterverhältnis: Das Beispiel Elterngeld, in: WZB Discussion Paper, Berlin 2008, Nr. 3, S. 14.
  9. Vgl. Michelsen, Claus; Bach, Stefan; Harnisch, Michelle: Baukindergeld: Einkommensstarke Haushalte profitieren in besonderem Maße, in: DIW aktuell, 2018, Nr. 14, S. 4.
  10. Vgl. z.B. Butterwegge 2018, S. 380f.

Autor:innen

Ehemaliger Praktikant bei KATAPULT.

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